HBt. hat geschrieben: ↑12.05.2023, 12:22
@nur_wazaari
In welche Richtungen kann (könnte) sich das SYSTEM ändern und wo durch tut (täte) es dieses? Können wir dem SYSTEM einen Namen geben, können wir es zufriedenstellend beschreiben? ... u.s.w.
Nur meine Ansicht/Meinung/Überlegungen etc. aus dem Hut:
Gesamtsystematisch:
Es kommt darauf an, was man mit einem System
erreichen will. Zumindest für Judo schafft sich das nicht selbst. Zurzeit ist klar, was der DJB und die meisten Landesverbände, als Dachorganisationen mit vielen beherbergten Vereinen, erreichen wollen: Mitglieder gewinnen, halten, reaktivieren - den Haushalt ins Plus bringen und finanziell absichern, die Statistiken in Ordnung bringen, konsolidieren, die Außendarstellung auf dem Papier und in den Medien positiv konnotieren. Die
Entscheidungsträger überzeugen. Darauf sind die allermeisten Aktionen derzeit ausgerichtet. Daran besteht ein
öffentliches Interesse, es gibt in Deutschland eine historisch gewachsene, gesellschaftlich relevante Funktion der Vereine und ihre Gründung bzw. ihr Bestehen sind zum Beispiel in unserer Rechtsordnung gesondert geschützt, z.B. Art.9 GG, §§26 ff. BGB etc..
Aktueller Zustand:
Um eine möglichst niedrigschwellige
Angebotssituation zu schaffen, müssen auch entsprechende Entwicklungs- und Ausbildungsprogramme dementsprechend ausgerichtet sein. Was heißt
niedrigschwellig? Jeder sollte (a) die Anforderungen für eine (b) belegbare Weiterentwicklung erreichen können. Nicht zuletzt deshalb, um (c) neue Multiplikatoren auszubilden. Alle drei Punkte werden aufgrund von
gesellschaftlichen Veränderungen usw. derzeit diskutiert, sprich man erzielt nicht die Erfolge, die es bräuchte, um auch zukünftig die Qualität zu sichern, um überhaupt genügend Multiplikatoren zu finden. Man hat also gehandelt, angepasst, den Einstieg erleichtert, den Wiedereinstieg beworben, führt Veranstaltungen durch und sorgt dafür, dass irgendwie jeder individuellen Erfolg haben kann. Vom Kleinkind bis zum Greis (zum Beispiel durch ein großes, vollumfängliches Judo-Festival).
Leistungssport:
Dann gibt es den Leistungssport. Dieser untersteht, wenn man das so sagen kann, der "Schirmherrschaft" der jeweiligen Innenministerien. Leistungssport ist in Deutschland eine Angelegenheit, die sich an
internationalen Vergleichen misst. Internationale Vergleiche erfordern hohen finanziellen und wissenschaftlichen Aufwand, erfordern Geduld, eine eingewachsene und gleichzeitig flexible Struktur, kompetente Entscheidungsträger. Wohlgemerkt, im Hinblick auf den
sportlichen Erfolg, die Anzahl an
Medaillen, das
Prestige und die jeweils nationale
Wertschätzung.
Das einzige relevante Kriterium für Erfolg ist im internationalen Vergleich der Erfolg, der sportliche Output, die Medaille samt Medaillenspiegel. Alles andere ist aus dieser Sicht Kokolores, nicht relevant - die
Zielvorgaben dabei sind erfüllt oder eben nicht, für jeden Wettkampf, für die Qualifikationsperioden, für die
Olympiazeit. Das muss man sich leisten können, als Nationalstaat, als Gesellschaft, als Gesamtsystem. Die
Risiken sind hoch, für alle am Leistungssport Beteiligten, für die Funktionäre. Läuft es nicht, werden vielleicht zwei Olympiaperioden lang die Zielvorgaben nicht erreicht, dann fällt dieser
Arbeitsmarkt und damit auch das System zusammen. Es wird nicht weiter gefördert. Das ist die deutsche Situation für den Leistungssport. Judo ist hinsichtlich der Finanzierung und der Wertschätzung durchaus "gefährdet".
Leistungssport und Breitensport - eine meiner Meinung nach für Judo unzulässige
Differenzierung - hängen in Deutschland eng zusammen. Da ist eine Binsenweisheit, alle Beteiligten wissen das. Judoka fangen im Verein an, nicht im Stützpunkt. Aber sobald sie im Stützpunkt sind, sind sie so gut wie nicht mehr im Verein präsent. Und sie multiplizieren nur noch spärlich.
Ist man im "Kader" angekommen, dann konzentriert sich alles auf den Leistungssport, auf die Erfolge, auf den Output. Im Übrigen kann man diese ökonomische Logik auch in den Graduierungsprogrammen finden - es zählen vor allem der Output, die Gürtelfarbe, die Bahnschranke, die Lizenz, die Stempelchen im Pass. Man hat noch ein paar sogenannte
Judowerte dazu erfunden. Hinzu kommen Nadeln und Anstecker von diversen Sportbünden, hinzu kommen vielleicht hier und da mal im Lokalteil der Stadtzeitung erwähnte Urkunden. Das alles rahmen sich 90% aller Trägerinnen und Träger gerne ein. Ich habe auch genug von dem Zeug
herumliegen, es interessiert mich persönlich nicht, auch nicht am Rande. Eher befremdet es mich - bin ich jetzt zwangsweise Teil des Systems, obwohl ich einfach nur das machte, was ich eben
gerne mache?
Letztlich sind das alles weniger allgemein qualifizierte Nachweise, sondern eher Relikte, mehr
Artefakte einer bestimmten Art von Organisation, innerhalb eines Tiegels und nicht etwa eines System, in jedem Fall aber einer Daseinsform, die langsam aber sicher aus der Zeit fällt. Das aktuelle System, nennen wir es mal so, gibt sehr viel auf Artefakte. Es handelt sich um eine Organisation, deren einziges relevantes Kriterium eine bestimmte Art des Erfolgs ist - der sportliche Erfolg, der im Judo ganz, ganz
selten auch finanziellen Erfolg nach sich zieht. Es gibt hinreichend berühmte Ausnahmen, die ich nicht missgünstig betrachte, aber im Hinblick auf Judo doch mit einiger Skepsis wahrnehme.
Welche Kriterien könnte ein System also noch zugrunde liegen, abgesehen vom Erfolg? Diese Frage ist in unserer allgemeinen kapitalistischen und marktorientierten
Logik (neutral und nicht wertend zu verstehen) sehr schwer zu beantworten. Paradoxerweise werden eben alle Systeme, die nicht einen gewissen Output oder einen gewissen Erfolg zugrunde legen, es sehr schwer haben sich durchzusetzen. Das ist nun mal so und in ein Stück weit sogar akzeptabel.
Allerdings muss dan ebenso akzeptabel sein, dass jede Entwicklung auch irgendwann stagniert - auch die neuer Systeme, Programme etc. Ich persönlich würde das zum Maßstab machen - wie entwicklungsfähig ist ein Programm, ein System? Wie kann auf neue Umstände reagiert werden? Wie wird gesichert, dass auch die
Qualität nicht leidet, unter allen Bedingungen?
Das aktuelle Programm ist auf Sicherung ausgelegt, auf
Schadensbegrenzung, nicht aber auf
Innovation(!). Es ist eine
Revision von weiteren, vorangegangenen Revisionen. Das muss nicht schlimm sein, das ist kein Beinbruch. Aber eine
Progression ist nicht zu erkennen, im Gegenteil - sie ist nur bis zu dem Punkt vorgesehen, an dem eine mögliche Progression erst anfängt. Plakativ, der "schwarze Gürtel". Was wäre darüber hinaus progressiv? Zum Beispiel das gesellschaftliche Engagement, das Einzelnen ganz sicher zuzusprechen ist, aber nicht dem System, dem was ich unter
Kanos Judo verstehen würde.
Um weitere Gürtelfarben, Nadeln und Urkunden mit einer offiziellen Anerkennung zu
gewinnen, ist das aktuelle Kyu-Programm wohl alternativlos. Es bietet inhaltlich hier und da Spielräume, Angebote, ein frohes Gutdünken - das aber nicht systematisch. Es bietet einen Konsens an, den alle irgendwie umsetzen dürfen und müssen. Es ist einigermaßen basisdemokratisch entstanden und spiegelt den aktuellen, offiziellen Erkenntnisstand wieder. Zumindest innerhalb Deutschlands. Ich bin soweit dann nicht im Bilde, ob man sich auch international Expertise hinzugeholt hat oder zumindest mal über die Grenzen schielte. Ich weiß nur aus anderen Bereichen, dass das als fast unerlässlich angesehen wird, wenn man
zukunftsträchtig agieren will. Auch im Judo wird zunehmend international gearbeitet, auch zum Beispiel mit Personal-Training im Leistungssport.
Ich vermute nach einiger Erfahrung mir dem angebotenen Programm wird sich jeder, der tatsächlich ambitioniert ist, selbst ein System geben müssen, während die Programme nur insoweit helfen können, dass zumindest hier und da Mindeststandards erfüllt werden.
Alles kann, nichts muss.
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