Judo, Leistungssport und Erziehung

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tutor!
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Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von tutor! »

Vor einigen Tagen stand im Faden zu Wettkämpfen der U11 folgender Beitrag von Mitesco:
Mitesco hat geschrieben:Meiner Meinung nach ist Judo eigentlich überhaupt keine Leistungssportart... nicht nur wegen den Regeln, sondern prinzipiell. Leider sind die Trainer immer mehr interessiert, die jungen Judoka mit Pokalen nach Hause zu schicken, statt sich um die Erziehung zu kümmern.
Es geht also um das immerwährende Thema "Leistungssport versus Erziehungssystem". Ist das nun ein Gegensatz, oder kommt es auf das "wie" an? Mitesco selbst hat auf seiner Homepage eine Menge dazu zusammengetragen. Ich möchte wirklich jedem Interessierten empfehlen, seine Gedanken nachzulesen (http://mitesco.awardspace.com/)

Zunächst einmal müssen wir uns fragen, ob Judo als Leistungssport grundsätzlich den Ideen Kanos widerspricht, oder ob es nur Exzesse im Leistungssport sind, die mit Kanos Ideen nicht vereinbar sind.

Letztere finden wir zweifellos - so wie Kano sie schon zu seiner Zeit gefunden hat. Drei Kritikpunkte stechen besonders heraus:
  • egozentrische Erfolgstypen widersprechen dem Judo-Geist, der von jedem einen Beitrag zum Allgemeinwohl fordert,
  • "dirty tricks" verhelfen vielleicht zum Sieg, stellen aber einen Verstoß gegen den Judo-Geist dar, weil sie gegen die Idee der Selbstperfektionierung verstoßen
  • das Eingehen gesundheitlicher Risiken und einseitiges Training ist ebenfalls nicht im Sinne Kanos.
Der Wettkampf als Gradmesser für den eigenen Lernfortschritt wird aber von Kano an keiner Stelle in Frage gestellt. Genauso wenig wie das Besteben gut im Wettkampf abzuschneiden. Er machte lediglich massiv auf drohende und von ihm tatsächlich wahrgenommene Fehlentwicklungen aufmerksam.

Wie sieht die Realität des heutigen Leistungssports Judo eigentlich aus? Sind diese Kritikpunkte uneingeschränkt aufrecht zu halten? Gibt es auch andere Beispiele?

Fangen wir mit den gesundheitlichen Risiken an. Die heutigen Kader werden regelmäßig sportärztlich untersucht und genießen eine deutliche bessere medizinische Versorgung als in früheren Jahrzehnten. Viele ehemalige Leistungssportler haben Spätschäden davon getragen. Daran gibt es leider keine Zweifel. Aus diesen Problemen hat man aber in den Verbänden massive Konsequenzen gezogen. Die Gesundheit der Sportler steht zum Glück - zumindest bei den Bundes- und den meisten Landestrainern - im Vordergrund.

"Dirty tricks" - es gibt sie, aber immer weniger. Auf Spitzenniveau kommt man mit miesen Touren eh nicht weiter. Abgesehen davon wachen auch die Kampfrichter darüber, dass alles fair zu geht.

Egozentriker: auch die gibt es, aber ist das eine Voraussetzung für Erfolg? Ich beobachte viel mehr, dass erfolgreiche Judoka Team-Player sind. Wer die Spitzenleute in den Leistungszentren beim Training beobachtet wird erkennen, dass sie gerne dem Nachwuchs fragen beantworten und ihr Wissen und Können teilen. Ich glaube, dass es keine andere Sportart gibt, in der der Nachwuchs so dicht an die Spitzenleute herankommt wie im Judo. Auch wenn es egozentrische Judoka gibt: die Mehrzahl der Spitzenkönner demonstriert einen anderen Geist.

Weit überwiegend sehe ich gerade in den derzeitigen Leistungsträgern gute Vorbilder und guten Judo-Geist!

Erziehung ist ein anderes, ganz weites Feld. Erziehung - das weiß man heute - funktioniert in erster Linie durch Schaffen von Erfahrungsfeldern, in den Menschen agieren und mit ihrem Umfeld in Interaktion stehen. Je nachdem, wie stark die Reaktionen des Umfelds gesteuert sind, kann man von stärker oder schwächer intendierter Erziehung sprechen.

Leistungssport ist ein solches Feld, in dem unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden können, z.B. dass Beharrlichkeit, Zielstrebigkeit zu Erfolg führen, während Nachlässigkeit das Gegenteil zur Folge haben kann. Das "Erziehungsfeld Leistungssport" muss so gestaltet werden, dass genau jene erzieherisch wirksamen Erfahrungen gemacht werden, die die Entwicklung den Zöglings in gewünschter Weise beeinflussen.

Leistungssport kann also auch als Erziehungsmittel gesehen werden - und damit nicht automatisch im Gegensatz zu einem Erziehungsgedanken. Entscheidend ist der Sinn, dem man dem Leistungssport zuschreibt: geht es um (Selbst-)Perfektionierung - was Judo in Reinkultur darstellen würde - oder nur um externe Anerkennung?

Es kommt daher IMHO in erster Linie auf das "wie" an und auf die geistige Haltung, die hinter dem Tun steht.
I founded a new system for physical culture and mental training as well as for winning contests. I called this "Kodokan Judo",(J. Kano 1898)
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Fritz
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Re: Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von Fritz »

Interessantes Thema.
Ich will meine Gedanken mal an diesem Satz aufhängen:
tutor! hat geschrieben:Fangen wir mit den gesundheitlichen Risiken an. Die heutigen Kader werden regelmäßig sportärztlich untersucht und genießen eine deutliche bessere medizinische Versorgung als in früheren Jahrzehnten. Viele ehemalige Leistungssportler haben Spätschäden davon getragen.
Das ist sicherlich richtig. Allerdings gilt das nur für "die Kader".
Das Problem ist in meinen Augen ja auch nicht,
ob "die Kader" nun gesundheitlich betreut werden oder nicht,
ob sie alle Kata kennen oder nicht auch nicht, ob deren Würfe nun "straßentauglich" sind oder nicht.,.

Das Problem ist vielmehr, daß das Gewinnen von Meisterschaften nicht nur als
_ein_ erstrebenswertes Ziel, sondern oft als _einzig_ erstrebenswertes Ziel an die Üblinge vermittelt wird,
Beispielsweise, wenn sich der Trainer vor die Üblinge stellt und sie beleidigt fragt, wozu sie
denn überhaupt Judo machen, wenn sie nicht zum Wettkampf gehen wollen...
Oder wenn Prüfungsleistungen als besonders gut herausgestellt werden, mit der Begründung,
daß sie ja besonders wettkampfambitioniert vorgeführt haben - obwohl teilweise Techniken falsch u.
gesundheitsgefährdend, aber dafür kraftvoll und dynamisch gezeigt wurden...

Ich denke auch nicht, daß der Hauptteil der Kritik, die hier im Forum am "Leistungssport" geübt wird,
sich auf die wirklichen Spitzenleute an sich bezieht, die sind in der Regel wie "tutor!" schreibt:
Auch wenn es egozentrische Judoka gibt: die Mehrzahl der Spitzenkönner demonstriert einen anderen Geist.
Kritikziel sind in meinen Augen die "Möchtegern"-Spitzenkönner, die
- als Wettkämpfer / Randori"partner" durch Überehrgeiz sich und andere gefährden bzw. "verschleißen"...
- als Übungs"kameraden" andere auf der Matte überheblich behandeln, nicht vernünftig üben lassen usw.
- als Trainer ihre Üblinge in die Wettkampfschiene schieben und dabei auf jene kurzfristig erfolgreichen
Techniken / Taktiken / Verhaltensweisen setzen, für deren Unterbindung uns regelmäßig neue "Jugendregeln" aufgedrückt werden....
- als Eltern gerne das vom Nachwuchs realisiert sehen möchten, was sie selbst nie geschafft haben...
- als Funktionäre andere mit ganzheitlichem Blick auf Judo "an die Wand drängen"...
usw.
Leistungssport ist ein solches Feld, in dem unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden können, z.B. dass Beharrlichkeit, Zielstrebigkeit zu Erfolg führen, während Nachlässigkeit das Gegenteil zur Folge haben kann. Das "Erziehungsfeld Leistungssport" muss so gestaltet werden, dass genau jene erzieherisch wirksamen Erfahrungen gemacht werden, die die Entwicklung den Zöglings in gewünschter Weise beeinflussen.
Das ist sicherlich richtig. Nur was ist mit denen, bei denen Beharrlichkeit, Zielstrebigkeit nicht zum
Erfolg führten (weil z.B. andere, körperliche / geistige Voraussetzungen fehlen)? Wie werden diese
durch den Leistungssport erzogen - lernen sie nicht für sich, daß Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit,
letztendlich nichts nützen?
Mit freundlichem Gruß

Fritz
tutor!
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Re: Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von tutor! »

Fritz hat geschrieben:Das Problem ist vielmehr, daß das Gewinnen von Meisterschaften nicht nur als
_ein_ erstrebenswertes Ziel, sondern oft als _einzig_ erstrebenswertes Ziel an die Üblinge vermittelt wird,
Beispielsweise, wenn sich der Trainer vor die Üblinge stellt und sie beleidigt fragt, wozu sie
denn überhaupt Judo machen, wenn sie nicht zum Wettkampf gehen wollen...
Oder wenn Prüfungsleistungen als besonders gut herausgestellt werden, mit der Begründung,
daß sie ja besonders wettkampfambitioniert vorgeführt haben - obwohl teilweise Techniken falsch u.
gesundheitsgefährdend, aber dafür kraftvoll und dynamisch gezeigt wurden...
Diese "Kollegen" haben - vorsichtig ausgedrückt - einen erheblichen Fortbildungsbedarf. Keiner der drei Punkte, die Du ansprichst, darf so passieren. Sie widersprechen außerdem explizit allem, was in den Aus- und Fortbildungen des DJB vermittelt wird!
Fritz hat geschrieben:Ich denke auch nicht, daß der Hauptteil der Kritik, die hier im Forum am "Leistungssport" geübt wird,
sich auf die wirklichen Spitzenleute an sich bezieht, die sind in der Regel wie "tutor!" schreibt:
Auch wenn es egozentrische Judoka gibt: die Mehrzahl der Spitzenkönner demonstriert einen anderen Geist.
Kritikziel sind in meinen Augen die "Möchtegern"-Spitzenkönner, die
- als Wettkämpfer / Randori"partner" durch Überehrgeiz sich und andere gefährden bzw. "verschleißen"...
- als Übungs"kameraden" andere auf der Matte überheblich behandeln, nicht vernünftig üben lassen usw.
- als Trainer ihre Üblinge in die Wettkampfschiene schieben und dabei auf jene kurzfristig erfolgreichen
Techniken / Taktiken / Verhaltensweisen setzen, für deren Unterbindung uns regelmäßig neue "Jugendregeln" aufgedrückt werden....
- als Eltern gerne das vom Nachwuchs realisiert sehen möchten, was sie selbst nie geschafft haben...
- als Funktionäre andere mit ganzheitlichem Blick auf Judo "an die Wand drängen"...
usw.
Dem stimme ich zu, es sind:
- Möchtegern Spitzenkönner
- Möchtegern Spitzentrainer
- Möchtegern Spitzenfunktionäre
- Möchtegern Spitzeneltern

Wirft man einen Blick auf diejenigen, die tatsächlich ganz vorne stehen, wird man feststellen, dass die benannten - und beobachtbaren Missstände - hauptsächlich ein Problem der unteren oder allenfalls mittleren Riegen sind, was letztlich auch zeigt, dass man mit derartigen Einstellungen und Handlungsweisen nicht wirklich "nach vorne" kommt.
Fritz hat geschrieben:Nur was ist mit denen, bei denen Beharrlichkeit, Zielstrebigkeit nicht zum
Erfolg führten (weil z.B. andere, körperliche / geistige Voraussetzungen fehlen)? Wie werden diese
durch den Leistungssport erzogen - lernen sie nicht für sich, daß Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit,
letztendlich nichts nützen?
Sie werden (wie alle anderen auch) lernen müssen, dass jeder Mensch seine Grenzen hat und dass nicht jeder in jedem Feld Spitzenleistungen erbringen kann. Gerade für sie bietet Judo andere Felder: Kata, Prüfungen oder auch Unterrichten, denn eine gewisse Qualität erreicht jeder mit Beharrlichkeit. Nur haben wir eben alle unterschiedliche Stärken und Schwächen und es ist ein Teil des Judo-Geistes, dass wir unsere Energie so investieren, dass wir der Allgemeinheit am besten dienen können.
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Fritz
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Re: Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von Fritz »

Tutor! hat geschrieben:Wirft man einen Blick auf diejenigen, die tatsächlich ganz vorne stehen, wird man feststellen, dass die benannten - und beobachtbaren Missstände - hauptsächlich ein Problem der unteren oder allenfalls mittleren Riegen sind, was letztlich auch zeigt, dass man mit derartigen Einstellungen und Handlungsweisen nicht wirklich "nach vorne" kommt.
Nun stellt sich die Frage, ob diese Mißstände abstellbar oder halt systemimmanent sind...
Diese "Kollegen" haben - vorsichtig ausgedrückt - einen erheblichen Fortbildungsbedarf. Keiner der drei Punkte, die Du ansprichst, darf so passieren. Sie widersprechen außerdem explizit allem, was in den Aus- und Fortbildungen des DJB vermittelt wird!
Es bleibt nur zu hoffen, daß diese Aus- u. Weiterbildungen auch fruchten über lange Sicht.
Sie werden (wie alle anderen auch) lernen müssen, dass jeder Mensch seine Grenzen hat und dass nicht jeder in jedem Feld Spitzenleistungen erbringen kann. Gerade für sie bietet Judo andere Felder: Kata, Prüfungen oder auch Unterrichten, denn eine gewisse Qualität erreicht jeder mit Beharrlichkeit. Nur haben wir eben alle unterschiedliche Stärken und Schwächen und es ist ein Teil des Judo-Geistes, dass wir unsere Energie so investieren, dass wir der Allgemeinheit am besten dienen können.
Dann muß ihnen aber auch rechtzeitig die Augen geöffnet werden,
was Judo außerdem Meisterschaftsgewinn noch zu bieten hat. Und es muß vermittelt werden,
daß diese Felder von der Bedeutung her gleichwertig zu den Meisterschaftsgewinnen
anzusehen sind ;-)
Prüfungen sehe ich nicht als eigenständiges Feld, Prüfungen sollten ein
"Nebenprodukt" der Beschäftigung mit Judo(-inhalten) ein...
Allerdings sind die Prüfungen meiner Meinung nach zu sehr am Wettkampf
ausgerichtet und zu wenig am darüber hinausgehenden Judowissen
(Vom Prüfungsfach Kata mal abgesehen) ...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
tutor!
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Re: Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von tutor! »

Es ist eine nie enden werdende Daueraufgabe. Das ist das Wesen der Erziehung, denn selbstverständlich müssen die Trainer von morgen heute herangezogen werden. Es wachsen immer wieder neue Zöglinge nach - teils mit denselben Probleme, teils mit neuen Herausforderungen. Aber ich sehe bereits deutliche Fortschritte.

Prüfungen sind für mich selbstverständlich auch kein eigenständiges Handlungs- oder Betätigungsfeld, also kein Segment des Judo, sondern vor allem eine gute Gelegenheit, Erfolgserlebnisse zu sammeln. In diesem Sinn habe ich den Hinweis gemeint. Allerdings sehe ich keine Wettkampflastigkeit im derzeitigen Prüfungsprogramm - sondern ganz im Gegenteil! Ich sehe das Bemühen um eine Balance zwischen Randori und Kata. Wäre aber eine Diskussion in einem eigenen Faden wert.
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Olaf
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Re: Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von Olaf »

Ich möchte die Diskussion an ihre Basis zurückführen. Tutor führt aus, dass auch der Leistungssport erzieherischen Zielen dienen kann und dazu hat er in den beschriebenen Bereichen Beispiele angeführt, für die dieser Gedanke bejaht werden kann.
Der Gedanke, dass einzelnen Bereiche des Lebens ja zu Lernfortschritten führen und damit der Erziehung zuzurechnen seien, ist des Öfteren aus verschiedenen Bereichen zu hören, lässt aber den wichtigsten Aspekt der Erziehung außer acht.

Methoden der Erziehung sind Zielen unterworfen und dienen explizit der Erreichung dieser Ziele. Verändert man die Methoden und Rahmenbedingungen des Erziehungsmittels (in unserem Falle die Regeln des Wettkampfes) müsste zuallererst das oberste Ziel, die Erziehung, im Mittelpunkt stehen. Dies kann ich aber nicht erkennen.
Der Wettkampf und der Leistungssport dienen in erster Linie sich selbst. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie die Bundestrainer um die Besetzung eines Startplatz für Olympia reden und sich überlegen, für welchen Athleten die Massnahme wohl pädagogisch sinnvoller wäre. Solche Gespräche gibt es maximal im unteren Ebenen, wenn es um die Förderung junger Athleten geht und auch dann ist nicht die Frage, wie der Sportler in seiner Persönlichkeit geformt werden soll, sondern es geht um die Heranbildung von erfolgreichen Wettkämpfern.

Ganz klar: Das Ziel im Leistungssport ist das Erringen von Medaillen, möglichst bei OS, WM und EM, und damit die Sicherstellung diverser Fördermittel, nicht die Ausbildung besserer Menschen.

Es gibt sicherlich einige Judoka die sich den pädagogischen Prinzipien des Judo verschrieben haben, unter denen die ich kenne sind es aber nur sehr wenige, die sich überhaupt darüber Gedanken machen.
Und so weit zu gehen diesen Gedanken zum Hauptziel ihres sportlichen Handelns zu machen, davon kenne ich nur eine Hand voll.
Immer wieder muß das Unmögliche versucht werden,
um das Mögliche zu erreichen

Derjenige, der sagt „Es geht nicht“, soll denjenigen nicht stören, der es gerade tut.

Jeder kann unter http://www.obernkirchenraptors.de mehr über uns erfahren.
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Re: Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von tutor! »

Letztlich geht es um die Frage, wie Leistungssport auf denjenigen wirkt, der ihn betreibt. Für mich ist Leistungssport eine
Art Judo zu betrieben - eine Art, die ich etwa ein Drittel meiner bisherigen Judo-Zeit betrieben habe. Oder anders: zwei Drittel der Zeit, die ich Judo betreibe, hatte nichts mit Leistungssport zu tun.

Update: von den ca. 200.000 in den Vereinen des DJB organisierten Judoka betreiben nach meinem Verständnis über alle Altersklassen hinweg maximal 1.000 Judo als Leistungssport, also etwa 0,5%, während ich die restlichen 99,5% dem Breitensport (obwohl es ein fürchterlicher Begriff ist) zuordnen würde. Leistungssport beginnt dort, wo weite Teile des Alltagslebens der Leistungsentwicklung im Sport untergeordnet werden. Ehrgeiz und gute Leistungen gibt es natürlich auch in den ca. 99,5% des Nicht-Leistungssports!

Man kann Leistungssport aber auch als Oberbegriff für die Organisation der Leistungssport betreibenden betrachten. Dadurch verändert sch natürlich die Perspektive.
Olaf hat geschrieben:Methoden der Erziehung sind Zielen unterworfen und dienen explizit der Erreichung dieser Ziele. Verändert man die Methoden und Rahmenbedingungen des Erziehungsmittels (in unserem Falle die Regeln des Wettkampfes) müsste zuallererst das oberste Ziel, die Erziehung, im Mittelpunkt stehen. Dies kann ich aber nicht erkennen.
Die Wettkampfregeln müssen faire Ausgangsbedingungen und Transparenz der Entscheidungen schaffen. Daneben muss das Kampfverhalten so gesteuert werden, dass unerwünschte Kampfgestaltung gegenüber erwünschter Kampfgestaltung nicht in Vorteil gerät. Mehr können Regeln nicht leisten - und ich meine, sie tun es, bzw. es wird immer wieder versucht entsprechend nach zu steuern.
Olaf hat geschrieben:Der Wettkampf und der Leistungssport dienen in erster Linie sich selbst.
Hier siehst du den Aspekt der Organisation. Der einzelne Leistungssportler hat seine eigene Motivation. Wer nur den Erfolg will, um der Anerkennung oder der Pokale willen, der macht etwas falsch. Aber ehrlich gesagt kenne ich keinen einzigen Judo-Leistungssportler, der über die Jahre ausschließlich hinter den Medaillen her war. Dazu ist der Aufwand viel zu groß und der materielle Ertrag zu niedrig.
Olaf hat geschrieben:Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie die Bundestrainer um die Besetzung eines Startplatz für Olympia reden und sich überlegen, für welchen Athleten die Massnahme wohl pädagogisch sinnvoller wäre. Solche Gespräche gibt es maximal im unteren Ebenen wenn es um die Förderung junger Athleten geht und auch dann ist nicht die Frage, wie der Sportler in seiner Persönlichkeit geformt werden soll, sondern es geht um die Heranbildung von erfolgreichen Wettkämpfern.
Wenn erfolgreiche Wettkämpfer herangebildet werden, muss auch ihre Persönlichkeit - insbesondere das Selbstbewusstsein - entwickelt werden. Insofern ist das kein Widerspruch, aber Nominierungsentscheidungen sind natürlich keine pädagogischen Maßnahmen. Selektionsentscheidungen sind das niemals! Der einzelne Sportler unterwirft sich mit seiner Entscheidung für den Leistungssport auch einem Selektionssystem. Er muss sich damit auseinandersetzen, dass seine Leistung für die Nominierung ausreichen muss, das heißt, dass er mit seiner Leistung im Wettbewerb steht.
Olaf hat geschrieben:Ganz klar: Das Ziel im Leistungssport ist das Erringen von Medaillen, möglichst bei OS, WM und EM, und damit die Sicherstellung diverser Fördermittel, nicht die Ausbildung besserer Menschen.
Nicht "das" Ziel - aber leider aufgrund der Rahmenbedingungen nicht außer acht zu lassen. Die errungenen Medaillen und Platzierungen sind Gradmesser für den erreichten Fortschritt. Sie sind das Maß für das Erreichte - und somit auch ein Ziel. Heute kann ich sagen, dass ich nicht einmal weiß, wo meine Medaillen und Urkunden sind und dass es auch vollkommen egal ist, was ich jemals gewonnen habe und woran ich gescheitert bin. Was viel wichtiger, ist die Wirkung, die es auf mich als Persönlichkeit hatte. Und an dem Punkt ist die Leistungssportvergangenheit spürbar. Un dafür bin ich dankbar.
Olaf hat geschrieben:Es gibt sicherlich einige Judoka die sich den pädagogischen Prinzipien des Judo verschrieben haben, unter denen die ich kenne sind es aber nur sehr wenige, die sich überhaupt darüber Gedanken machen.
Und so weit zu gehen diesen Gedanken zum Hauptziel ihres sportlichen Handelns zu machen, davon kenne ich nur eine Hand voll.
Traurig genug - arbeiten wir daran, dass es mehr werden.
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Lin Chung
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Re: Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von Lin Chung »

Meine 2Cent dazu.

Für mich Leistungssport nur noch Nebensache. Auch wenn ich in der Vergangenheit Erfolge hatte, so schaue ich nicht darauf, denn es ist kein Maßstab, gewonnen oder verloren zu haben gegen irgendjemanden.

Für mich ist wichtiger, mich selbst zu bezwingen oder zu motivieren und das Tag ein, Tag aus, egal, wie schwer es ist. Mir ein Ziel zu setzen und versuchen, es zu erreichen. Ganz wichtig ist es, beweglich zu bleiben. Ein Grund mehr, weshalb ich mir eine andere KKst ausgesucht habe.
Grüße
Norbert Bosse
ボッセ・ノルベルト

Wissen stirbt, wenn es bewahrt wird, und lebt, wenn es geteilt wird.
Non scholae sed vitae discimus (Nicht für die Schule - für das Leben lernen wir)
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HBt

Judo: Leistungssport und Erziehung

Beitrag von HBt »

Norbert hat geschrieben:Ganz wichtig ist es, beweglich zu bleiben. Ein Grund mehr, weshalb ich mir eine andere KKst ausgesucht habe.
Damit unterstellst Du ja, daß man durch 'Leistungsjudo' starr und unbeweglich wird. Der absolute Gegensatz zur Flexibilität, ich muß Dir leider zustimmen. Auf unterer und mittlerer Ebene stimmt das so, jetzt schließt sich wiederholt der Kreis: KK oder Sport? Einfacher, was ist Sport oder was leistet (könnte leisten) der Sport im Sinne von Erziehung? Welches Ideal, Menschenbild (Gesellschaftsbild) strebt diese Erziehung an, kollektivistisch oder individualistisch ...

Alles Quatsch, der LS braucht international meßbare Erfolge ... nur für wen und warum?
Tutor! hat geschrieben:Traurig genug - arbeiten wir daran, dass es mehr werden.
WIE?
Olaf hat es auf den entscheidenden Punkt gebracht: "(..) so weit zu gehen diesen Gedanken zum Hauptziel ihres sportlichen Handelns zu machen (..) " Weiter?
Tutor hat geschrieben:Es kommt daher IMHO in erster Linie auf das "wie" an und auf die geistige Haltung, die hinter dem Tun steht.
Ja doch und bringt uns diese Erkenntnis jetzt irgendwie weiter? Gehen wir einmal davon aus, dass alle Stützpunkte mit ihren Leistungsträgern dem gewünschten Ideal entsprechen, dann sollten wir alle sofort dorthin strömen.
Zuletzt geändert von HBt am 23.12.2008, 14:29, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von Mitesco »

Danke erstmals für die Werbung für meine Webseite! :) Ich versuche auch nur ein Wenig beizutragen.

Ich stelle mir immer mehr die Frage ob und in wiefern Leistungssport, und damit der kompetitive Geist des wettkampforientierten Judo überhaupt realistisch zu vereinigen sei mit den großeren Zielen des Judo, d.h. Jita Kyoei. Wettkampf kann schon erzieherisch erscheinen im Rahmen der Charakterbildung, und es ist wahr, daß es manchmal zu Disziplin, Widmung und Konzentration auf Ideale führt, aber ... wesentlich ist Wettkampf immer mehr das Gegenüber des Judopartners statt Zusammenarbeit. Man will gewinnen, nicht sowas wie trainieren im Turnier - lernen statt gewinnen...? Im Rahmen des Jita Kyoei und auch der Anwendung der Seiryoku-Zenyo-Gedanken, ist beim Judo in erster Linie das Miteinander aber total wichtig. Ich fürchte manchmal, daß - wenn Judoka nicht richtig erzogen sind im Judogeiste - die große Ziele verschwinden wie Schnee vor der Sonne, wenn sie 'Hajime' hören und deswegen in dem Moment der Partner nicht mehr Partner, sondern knallharter Gegner ist. Nicht mehr lernen im Shiai, sondern trotzdem gewinnen... vom anderen, nicht von sich selbst...

Erziehung in Verbindung mit Leistungssport ist deswegen nicht per se unmöglich, aber fordert vom Judoka, daß er so total beherrscht sei und durch und durch erfüllt vom Ziel des Friedens, Harmonie, Zusammenseins... Von Jugendlichen ist das vielleicht zuviel verlangt, aber auch Erwachsene haben damit bestimmt große Probleme. Es ist meinetwegen aber der einzige Einstieg, womit man die Lehre des Kano verstehen kann, wobei er immer Shiai akzeptiert, sondern auch betont, daß man die große Ziele nie vergessen sollte. Das erste ist das Positive, die Herausforderung des richtigen Geistes, das zweite die edukative Herausforderung. Wenn nur diese beiden im Balance sind, ist es gutes Judo. Wie immer, wenn die Balance fehlt... hört das Judo auf.

Mitesco (http://www.mitesco.nl)

"Man kann man sagen, dass die Lehre von Judo einen aus der Tiefe der Verstimmung in ein Stadium energischer Tätigkeit mit einer frohen Hoffnung in die Zukunft führen kann." Jigoro Kano
HBt

Die Balance

Beitrag von HBt »

Hallo Mitesco,
sag es doch ruhig deutlicher, das was landläufig unter Judo angesehen und betrieben wird ist kein Judo. Punkt.
Traurig aber wahr, LS hin LS her, mit Kanos Kodokan Judo kann LS nichts gemein haben, ebenso wenig mit 'geselligem Beisammensein'
(schon gar nicht auf der Matte). Oder irre ich mich hier?

Was schrieb Feldenkrais zum Shiai und den alten Männern:
"(..) sie schlugen sie einfach, um (..) "--> Lektion(en). Der Shiai könnte also als ein ziemlich hohes Trainingsgut und Mittel anzusehen sein, nicht als ein Wettstreit.
tutor!
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Re: Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von tutor! »

Mitesco hat geschrieben:Erziehung in Verbindung mit Leistungssport ist deswegen nicht per se unmöglich, aber fordert vom Judoka, daß er so total beherrscht sei und durch und durch erfüllt vom Ziel des Friedens, Harmonie, Zusammenseins... Von Jugendlichen ist das vielleicht zuviel verlangt, aber auch Erwachsene haben damit bestimmt große Probleme.
Das sehe ich genauso, Danke! Erziehung im Sinne Kanos und Leistungssport schließen sich nicht aus - aber man muss es entsprechend gestalten.
Lin Chung hat geschrieben:Für mich ist wichtiger, mich selbst zu bezwingen oder zu motivieren und das Tag ein, Tag aus, egal, wie schwer es ist. Mir ein Ziel zu setzen und versuchen, es zu erreichen.
Weise Worte: wir suchen uns Ziele und stellen uns Herausforderungen. In einer Kampfkunst liegen die Herausforderungen wo? Im Kampf, oder? Wie aber muss ein Kampf aussehen, wenn sich diese Kampfkunst explizit der Gesundheit und des Allgemeinen Wohlergehens verschrieben hat? Richtig: der Kampf muss in einer Weise regelgeleitet sein, die die Kämpfenden schützt.

Der Gegner ist mit seinen Fähigkeiten die Herausforderung, der ich mich stelle, die ich suche - und umgekehrt. Deshalb will zwar jeder gewinnen, aber jeder ist auch für den anderen der Prüfstein für die eigenen Fähigkeiten. Der Bergsteiger prüft sich an einer Steilwand - der Judoka an dem Können seiner Gegner.

Auch im Leistungssport wirst Du sehr schnell merken, dass Du mit Deinen Wettkampf-Gegnern und Konkurrenten gemeinsam trainieren musst - und zwar gerade auch mit gegenseitiger Unterstützung. Leistungssport ist nicht nur Wettkampf, sondern mindestens 90% ist Training.
HBt hat geschrieben:Alles Quatsch, der LS braucht international meßbare Erfolge ... nur für wen und warum?
Du hast nicht gelesen, wie ich Leistungssport definiert habe, oder? Lies mal weiter oben nach.
HBt hat geschrieben:LS hin LS her, mit Kanos Kodokan Judo kann LS nichts gemein haben, ebenso wenig mit 'geselligem Beisammensein' (schon gar nicht auf der Matte). Oder irre ich mich hier?
Ja, Du irrst, weil Du Leistungssport als System betrachtest und nicht als eine Art Judo zu betreiben.
  • In einer Kampfkunst, den Kampf nicht zu führen, ist absurd,
  • In einer Kampfkunst, sich im Kampf nicht verbessern zu wollen, ist genauso absurd,
  • In einer Kampfkunst, die die Gesundheit und den Charakter fördern soll, außerhalb eines geschütztes Rahmens kämpfen zu wollen, ist noch absurder
Der Judoka, der sich immer bessere Gegner als Herausforderung für den regelgeleiteten Kampf sucht, damit er an ihnen wachse und sich physisch, technisch und mental weiterentwickelt, betreibt Judo im Sinne Kanos (wenn er nicht gegen andere Gebote verstößt). Daran kann doch kein Zweifel bestehen.

Die Organisation, die um diese Judoka herum aufgebaut wird, mit ihrem ständigen Fragen nach Ergebnissen, Medaillen und Titeln, also Politik, Presse, Öffentlichkeit - kurz: die Geldgeber für die Verbände -, haben einen anderen Geist, der oft nicht oder nur schwer mit Kanos Gedanken in Einklang zu bringen ist. Was haben die Olympischen Spiele heutzutage noch mit Coubertin zu tun?

Aber das ist eine ganz andere Ebene und dem aufrechten Judoka, der Leistungssport betreibt, wird ziemlich unrecht damit getan, wenn er für gesellschaftliche Bedingungen diffamiert und quasi als Nicht-Judoka abgestempelt wird. Für Zustände, für die er nicht verantwortlich ist, während andere, die sich nicht der Herausforderung des Kampfes stellen, sich als die wahren Judoka bezeichnen.
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HBt

Die Realität

Beitrag von HBt »

@Tutor,
sieht die Realität so wie Du sie beschreibst tatsächlich aus? Es ist doch eher ein Ziel, dem ich mich als Sportler u. Judoka gerne anschließe. Selbstverständlich kann jeder Judo als Weg über den Leistungssport gehen*, interessant wäre es diesbzgl. ein Interview mit Ole Bischof zu führen ...

*und sich erschließen / eröffnen, obwohl ich mir das, heute und jetzt, schwerlich vorstellen kann.

Das ein Ziel der KK immer der Kampf (mit einem Gegner)
oder wenigstens auf dem Weg der Vervollkommnung der Kampf liegen muß, sollte (should be), leuchtet mir nicht 'so wirklich' ein. Wenn ich einmal das TaiChi anführen darf oder das Aikido um so weniger. Als Schlachtfeldtechniken klar, als LS selbstverständlich auch: so wie Ringen, Fechten, Boxen u.a.

Was hebt jetzt den LS** als Erziehungsmittel/Träger über andere Formen der 'Knabenführung'. Drehen wir uns hier nicht wieder im Kreis?

** der Judo-Leistungssport
Zuletzt geändert von HBt am 23.12.2008, 20:10, insgesamt 2-mal geändert.
tutor!
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Re: Reduktion: Judo, Leistungssport, Erziehung und die jeweilige

Beitrag von tutor! »

HBt hat geschrieben:
Aber das ist eine ganz andere Ebene und dem aufrechten Judoka, der Leistungssport betreibt, wird ziemlich unrecht damit getan, wenn er für gesellschaftliche Bedingungen diffamiert und quasi als Nicht-Judoka abgestempelt wird. Für Zustände, für die er nicht verantwortlich ist, während andere, die sich nicht der Herausforderung des Kampfes stellen, sich als die wahren Judoka bezeichnen.
Ups, kannst Du das bitte erläutern? Der Bogen erschließt sich mir atok nicht
Gerne! Mit aufrecht meine ich nicht die Körper- sondern die Geisteshaltung im Sinne von ernsthaft. Damit meine ich einen Judoka, der Leistungssport betreibt, aber nicht um der Anerkennung, der Medaillen oder der Pokale willen, sondern um der persönlichen Weiterentwicklung wllen. Dies ist ein Judoka, der in erster Linie im Wettkampf die persönliche Herausforderung sucht und dafür trainiert, immer größere Herausforderungen im Wettkampf erfolgreich zu bestehen.

Dies ist nicht die primäre Absicht und Zielsetzung von Kindern. Ihnen geht es um Belohnung im Sinne von Anerkennung. Aufgabe des erziehenden Trainers ist es IMHO, die Kinder und Jugendlichen von ihrer ursprünglich extrinsischen Motivation zu einer intrinsischen Motivation zu führen. Dies passiert leider zu selten - aber genau hier wäre die Aufgabe des Trainers im Sinne Kanos.

Nehmen wir an, es ist gelungen und wir haben einen "aufrechten" Judoka, der Leistungssport betreibt. Der also fast täglich trainiert, sich mit sich und seiner Leistung auseinandersetzt, sich Gedanken über seine Gegner macht seine Bewährungsprobe im Wettkampf sucht und findet. Dieser Judoka erhält durch den Wettkampf Rückmeldungen, die er zu weiteren Trainingsbemühungen verarbeitet. Genau das macht ja den Leistungssport aus.

Um den Leistungssportler herum existiert ein Organisationssystem. In erster Linie geht es dabei darum, die enormen Kosten für Training und Starts zu finanzieren, bzw. ein entsprechendes Training überhaupt erst zu ermöglichen. Das Geld, das hierfür zur Verfügung gestellt wird, hängt bedauerlicherweise von den erreichten Ergebnissen ab, wofür aber der Sportler nichts kann. Es ist unsere Gesellschaft, die den Wert von Investitionen in den Leistungssport an Medaillen misst.

Zurück zu unserem Leistungssportler. Nun kommen andere, die Judo auch nicht annähernd in gleicher Intensität betreiben, dafür aber Bücher lesen, und sagen, dass dieser Judoka gar kein Judo betreiben würde, da er nur hinter Pokalen und Anerkennung her sei. Dieser Judoka wird also als Nicht-Judoka diffamiert. Aber wer versucht denn, sich im Kampf zu perfektionieren? Wer versucht denn, die Kampfkunst immer besser zu beherrschen?

An dieser Stelle wird dem Judoka der gesellschaftliche Rahmen (das "Leistungssportsystem") vorgehalten, den er nicht bestimmt und unter dem er mehr als andere leidet. Gleichzeitig wird auch über seine Motive spekuliert und diese als "minderwertig" bezeichnet. Mit welchem Recht?

Bedauerlich finde ich, dass motivierte Sportler nicht immer (leider viel zu selten) die qualifizierten Trainer haben, die sie verdient hätten.

Leistungssport ist beileibe nicht der einzige Weg Judo im Sinne Kanos zu betreiben - aber es ist nicht per se ein Widerspruch.
I founded a new system for physical culture and mental training as well as for winning contests. I called this "Kodokan Judo",(J. Kano 1898)
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Beitrag von HBt »

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Re: Reduktion: Judo, Leistungssport, Erziehung und die jeweilige

Beitrag von Mitesco »

tutor! hat geschrieben:...
Leistungssport ist beileibe nicht der einzige Weg Judo im Sinne Kanos zu betreiben - aber es ist nicht per se ein Widerspruch.
Grundlegend bleibt für mich die Frage: welche sind die Kriterien, wann und wo Judo im Sinne Kanos betrieben wird, und wann nicht mehr?

Ich denke folgendes. Judo kann sportlich verstanden werden, wenn nur der breite Weg der Judo ist, nie verengt wird. Wenn also die Ideale des Judo im Sporterlebnis vollkommen integriert werden. Es ist nicht unmöglich, besser gesagt: es wäre ideal, wenn alle Sportarten betrieben wurden mit der idealen Mentalität des Judo, wie Kano auch schon öfter betonte: wie eine Art (nationale, lese für uns: allgemeine) Leibeserziehung. Alle Sportarten sollten damit energieeffektiv gemacht werden, und auf das Wohl der Menschheit ausgerichtet sein. Alle kompetitive Sportarten sollten idealiter nie eine Atmosphäre haben, wobei es eine Art Krieg mit Gegnern und uneigentlichen Mitteln gäbe. Sport sollte im Sinne des Olympischen Ideales des Coubertins die Menschen zu Brüdern und Schwestern voneinander machen.
Leistung? Die größte Leistung sollte sein, daß man mitmacht und immer lernt, ein besserer Mensch zu werden. Im Judo ist die größte Leistung, daß man am Ende des Lebens sagen kann, daß man sein Weg gegangen ist, und seine persönliche Vollkommenheit gefunden hat. Die Pokale des Lebens.

Ist das unmöglich zu vereinen? Nein. Kano hat es versucht und obwohl viele Judo auf eigene Weise betreiben, bleiben die Ideale lebendig und auch realistisch.
Ist das heutige Judo kein Judo mehr? Nein, Hbt, das denke ich nicht. Manchmal schon, aber sogar im IJF sucht man immer wieder nach Lösungen das ursprüngliche Judo zu kultivieren. Nie perfekt, aber wer ist schon perfekt? Ich vermute das Judo ist immer noch Judo, auch wenn vielleicht eine Mehrheit eine Ausnahme ist. Ich wage es nicht etwas zu verallgemeinen...

Zum Schluß: ich vermute daß eine 'Lösung' in diesem Rahmen sein könnte, daß Judoka wieder Balance finden zwischen dem kompetitiven Element des Judo im Randori und eventuellen Shiai, aber auch im Kata. Kata öffnet ein Judoka für mehr idealistische und erzieherische Elemente des Judo, und die Partnerschaft zwischen den zwei 'Kämpfer'. Ich denke, daß die Probleme mit Judo und leistungsorientiertem Sport zusammenhängen mit dem Verlust des Gleichgewichtes zwischen - wie Kano immer betonte - den zwei 'Beinen', worauf das Judo steht. Randori (Shiai) ohne Kata verliert Balance, Judo nur als gemütliches Zusammensein ohne 'Streit' im Randori ebenfalls. Gutes Judo braucht beide Elemente, und wenn die da sind, kann Leistungssport besser integriert werden...

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"Man kann man sagen, dass die Lehre von Judo einen aus der Tiefe der Verstimmung in ein Stadium energischer Tätigkeit mit einer frohen Hoffnung in die Zukunft führen kann." Jigoro Kano
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Kein Widerspruch in sich ... aber Wunschdenken.

Beitrag von HBt »

Mitesco hat geschrieben:Ist das heutige Judo kein Judo mehr? Nein. HBt, das denke ich nicht. Manchmal schon, aber sogar im IJF sucht man immer wieder nach Lösungen das ursprüngliche Judo zu kultivieren. Nie perfekt, aber wer ist schon perfekt? Ich vermute das Judo ist immer noch Judo, auch wenn vielleicht eine Mehrheit eine Ausnahme ist. Ich wage es nicht etwas zu verallgemeinen...
Wenn die Balance* stimmt, ist der LS (auch und gerade im Allgemeinen) mit den Idealen von J. Kano wahrscheinlich vereinbar, ergo Judo. Das schreibt J. Kano aber auch selber, siehe wieder MoM vermute ich einmal [irgendwo habe ich dieses sinngemäß gelesen, würde dem Sport(ler) gut tun]. Hoffen wir also auf etwas mehr altruistische Züge und mehr Balance im täglichen Training und Miteinander -> Schwups sind wir wieder bei den 'Maximen' und 'Zielen'. Wobei eines immer vergessen wird, nämlich jiko no kansei.

Alleine durch das Angebot und das 'mehr wollen' [Kata u. Randori] ändert sich nix, die Basis/Realität bleibt vorerst unverändert,
glaube es ruhig.

Wir reden hier über Idealvorstellungen und Wünsche, vereinzelt gibt es sie (wie Tutor ausgeführt hat) - tatsächlich auch umgesetzt, mit dem Resultat der möglichen Diffamierung ... nach dem Motto: "Wer bist Du denn?"

*Y.B. hat sich in einem Zeitungsinterview (HAZ) direkt nach Olympia nicht gerade positiv über das System LS (Trainer, etc. pp.) geäußert. Wenn das System==LS, dann handelt es sich in diesem speziellen Fall nicht um Judo. Schwierig und einfach zu gleich; man muß diese Themen eben trennen, klar differenzieren -> aber die Außenwirkung ... bleibt!
(..) wenn die da sind, kann Leistungssport besser integriert werden...
Diesen Ansatz finde ich gut: LS ins Judo integrieren :dontknow
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Re: Kein Widerspruch in sich ... aber Wunschdenken.

Beitrag von tutor! »

HBt hat geschrieben:
(..) wenn die da sind, kann Leistungssport besser integriert werden...
Diesen Ansatz finde ich gut: LS ins Judo integrieren :dontknow
Ja, das ist der Punkt schlechthin. Judo ist das größere Ganze, Judo als Leistungssport nur ein Teil - nicht jeder macht es, und nicht jeder macht es in jeder Lebensphase (was auch gar nicht gehen würde).

Der Leistungssport Judo muss daher seinen Platz im Gesamtgefüge finden, also in das große Ganze eingebettet sein. Der Leistungssport als ein Segment des Judo birgt - wie alle anderen auch - für einen Erzieher Herausforderungen - im Wesentlichen die Fixierung auf das Ergebnis hin zu einer Vervollkommnung des Seins zu lenken. So gesehen könnte man fast schon sagen, dass das Ziel des Leistungssports in seiner Überwindung liegt. Aber bereitet nicht jede Lebensphase die darauf folgende vor?

Dank auch noch mal an Mitsesco für den Hinweis, dass für der Judo-Geist Vorbild für den übrigen Sport sein sollte. Nur so erklärt sich Kanos Engagement für die olympische Idee (29 Jahre IOC-Mitglied und erster Asiate überhaupt darin) und den japanischen Amateursport (Gründer und 10 Jahre Präsident des Sport-Verbandes).

Auf der praktischen Seite denke ich auch, dass es in erster Linie eine Frage der Balance ist. Ich bin davon überzeugt, dass ein Trainer jedem Schüler in jeder Phase auch Angebote eines "anderen" Judo machen sollte - damit es nicht zu Einseitigkeiten kommt und immer auch der Blick für das Ganze wach bleibt. Mit der Trias Kata, Randori, Shiai haben wir die vielleicht größte Vielfalt aller Sportarten - und wir haben eine immanente Philosophie des Lebens.

Davon sollte nichts verloren gehen!
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Re: Judo, Leistungssport und Wunschdenken

Beitrag von Mitesco »

Klar, alles was wir von Kano lernen und im heutigen Judo integrieren wollen, ist in gewisser Hinsicht Wunschdenken. Aber war es bei Kano selbst nicht auch so? Ich glaube, er war Realist genug, um zu wissen, daß vielleicht nur ein kleiner Teil aller seinen Ideale je realisiert werden könnte. Er wusste bereits damals, daß auch in Japan schon eine Tendenz zum Wettkampfsport da war. Er warnte so oft für die Gefahren der Einseitigkeit in der Betonung von anderen Zielen als das Wahre. Obwohl er ganz gut wusste, daß bereits seine Zeitgenossen keine Vorliebe zur Kata hatten, und lieber Randori machten, suchte er immer nach Balance. In allem. Nicht die Realität aus dem Auge verlieren, sondern auch nicht die Ideale zur Seite schieben aufgrund der Realität.

Deswegen finde ich es total richtig, daß Tutor! diesen Faden eröffnet hat. Judoka sollten sich manchmal fragen, ob wir immer noch Balance behalten haben, und dieses Forum hilft uns scharf zu bleiben. Zwischen den sogenannten Herausforderungen des Sports und den Herausforderungen des Ideals balancieren. Wenn wir nichts anderes mehr wünschen, als nur was 'alle' machen, d.h. Judo als bloßer Sport, erst dann tragen wir das Judo zum Grabe. So ist es überhaupt nicht. Nicht in Deutschland, nicht wo sonst. 'Alle' gibt's nicht, es gibt noch genug Judoka mit einem Judoherz, worauf Kano stolz gewesen wäre. Wir finden sie hier, aber auch im durchschnittlichen Dojo, auch wenn die sich dort nicht hören lassen.

Im Englischen Forum habe ich neben einem Spruch Kanos auch diese Unterschrift stehen: "You've got to have a dream, if you don't have a dream, how you gonna make a dream come true?" Ein Text von Captain Sensible, ein Englischer Popstar. Er hat recht. Ich glaube, Kano hat so gelebt. Er glaubte an seinen Idealen. So versuche ich's auch.

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Re: Judo, Leistungssport und Erziehung

Beitrag von Jupp »

Ob Judoka durch den Leistungssport erzogen werden oder wurden, wer kann das schon genau feststellen. So weit ich weiss, gibt es bisher keine Verfahren dafür, herauszufinden, in wie weit oder ob jemand "erzogen" worden ist. (über die Probleme der - gesellschaftlichen - Erstellung von Erziehungszielen, Beurteilung von Erziehungsmethoden oder der Güte von Tests zur Überprüfung von Erreichung von Zielen möchte ich hier nicht sprechen)

Mein eigene "Weisheit" zu diesem Problem lautet: "Ob unsere Erziehungsmaßnahmen tatsächlich "erzogen" haben, dass weiss man leider immer erst hinterher."

Schon in der Bibel steht: "An Ihren Früchten sollst Du sie erkennen!"
Oder (nicht in der Bibel)
"Ob ein Trainer einen Judoschüler gut erzogen hat, kann er daran erkennen, wie dieser Judoschüler später mit seinem Trainer umgeht."

Ole Bischoff jetzt zu befragen, ob Judo als Erziehungssystem etwas tauge ist sicherlich zu früh, weil eben nicht "hinterher" (also nach dem Leistungssport). Besser erscheint es mir dahingegen, den (ehemaligen) Olympiasieger (und Oles Heimtrainer) Frank Wieneke zu befragen, in wie weit sich bei ihm (und vielleicht im Verhältnis zu seinen beiden Kindern) Judo als Erziehungssystem darstellt.

Vielleicht schaffe ich es ja, beide noch vor dem Forumstreffen in Bad Godesberg zu diesem Thema zu befragen. Könnte doch interessant sein, zumal sich Frank ab 1. Januar nicht mehr in der Position des Nationaltrainers befindet, sondern Dozent für Pädagogik und Didaktik (ich hoffe diese Bezeichnung stimmt tatsächlich so..) an der Trainerakademie in Köln sei wird...

Jupp
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