Vielleicht noch einmal ganz von vorne.
„Lichtschalter“ fragte eingangs: „Wie komme ich von dieser bestimmten Position in diese und jene erwünschte Submission?“ (Ich würde es Technikanwendung/-Technikausführung nennen)
Mein nachfolgender Beitrag bezieht sich auf Judo als geregelter Wettkampfsport, nicht auf BJJ oder MMA oder irgendeine andere Kampfsituation. Das ist deswegen wichtig, weil die jeweiligen Voraussetzungen und Einschränkungen auch auf das zielführende Handeln wichtige Auswirkungen haben und im Judo andere Begrifflichkeiten verwendet werden, als z.B. beim BJJ. Auch durch die unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen können Verständigungsschwiergkeiten auftreten.
Also los:
Worum geht es beim Bodenkampf im Judo?
Ziel des Bodenkampfes im (sportlichen) Judo ist es,
die Kontrolle über den Gegner zu erreichen und dies mit einem Ippon (vollem Punkt) zu demonstrieren und sich dabei gleichzeitig der Kontrolle durch den Gegner zu entziehen, um den gegnerischen Ippon zu vermeiden. Wenn beide Parteien dasselbe Ziel haben, entwickelt sich daraus der Judo-Bodenkampf.
Im modernen Judokampf sind drei verschiedenen Möglichkeiten gestattet,
Kontrolle am Boden mit Hilfe von Kontrolltechniken (Katame-waza) zu demonstrieren und Ippon zu erzielen:
- Osae-komi-waza (Haltegriffe) mit der Idee, den Gegner regelgerecht festzuhalten (im Wettkampf benötigt man 25 Sekunden für einen Ippon)
- Kansetsu-waza (Hebeltechniken) mit der Idee, den Arm des Gegner am Ellenbogengelenk zu überstrecken oder zu verdrehen und ihn dadurch zur Aufgabe zu zwingen
- Shime-waza (Würgetechniken) mit der Idee, durch einen Würgegriff zur Aufgabe (oder zur Ohnmacht) zu zwingen.
Die Wettkampfregeln im Judo erlauben Katame-waza im Stand und am Boden, wobei direkt im Stand nur Armhebel und Würgegriffe wirksam werden können.
Wenn man über die Bodentechniken als Katame-waza spricht, muss man vorher präzise unterscheiden, was man alles zu diesem Bereich rechnen will. So ist die Diskussion im Judo nicht eindeutig entschieden, wann eine Grifftechnik beginnt und wann sie endet.
Eine
(enge) Sichtweise beschreibt ausschließlich die Aktion, die im sportlichen Vergleich mit Ippon (vollem Punkt) bewertet wird, also die Position oder Lage, wo der Kampfrichter „Osae-komi“ (Haltegriff zählt!) ansagt oder in der ein Armhebel oder Würgegriff wirksam wird.
In der Sportwissenschaft hat sich für diesen entscheidenden Augenblick der Technik der Begriff der „Hauptfunktion“ (oder „Hauptfunktionsphase“) festgesetzt
Die andere
(weite) Sichtweise beschreibt Grifftechniken von dem Moment an, wo sie situativ sinnvoll angesetzt werden können (Ausgangssituation) bis zu dem Augenblick, wo sie in einer Endposition (Hauptfunktionsphase) wirksam werden.
Aus heutiger Sicht kann man daher bei allen Judotechniken drei bestimmende Aspekte analysieren:
1. Ausgangssituation
2. Annäherungen durch Zwischenbewegungen (Hairi-kata)
3. Technikausführung
Teilaspekte der Katame-waza
1. Ausgangssituation
Die Ausgangssituation ist eine durch einen Bewegungsfehler von Uke oder durch geschicktes Verhalten von Tori geschaffene Konstellation der beiden Kontrahenten, die für die Ausführung einer bestimmten Technik günstig erscheint.
Das Hauptproblem besteht darin, dass Tori diese Situation nicht nur möglichst schnell als günstig erkennt, sondern quasi gleichzeitig für seinen Technikansatz zu nutzen beginnt.
2. Annäherung durch Zwischenbewegungen
Um nun von der Ausgangssituation - also einer bestimmten Konstellation der beiden Übenden zueinander - in eine (End-) Position zu gelangen, in der die Ausführung der Judotechnik ermöglicht wird, muss Tori bestimmte Zwischenbewegungen durchführen (drehen, wenden, überrollen, belasten, schneiden usw.). Diese werden Hairi-kata genannt, die Art und Weise, wie man hineinkommt.
Zumeist besteht die Aufgabe dieser Zwischenbewegungen darin, Uke in seinen Bewegungsmöglichkeiten einzuschränken (vor allem am Boden) und/oder engeren Körperkontakt herzustellen. Je größer der dabei zurückzulegende Weg ist und je länger er dauert, um so größer sind die Verteidigungschancen für Uke.
Ideal ist es also, eine Ausgangssituation zu haben, die nur sehr wenige, kleine Bewegungen in einer kurzen Zeitspanne erfordert, um die für die Technikausführung notwendige Kontrolle und Endposition zu ermöglichen.
3. Technikausführung in der Endposition
Die Endposition ist bei Haltegriffen sehr gut definiert. Sie stimmt überein mit der Position, die Tori gegenüber Uke einnehmen muss, damit der Kampfrichter „Osae-komi! “ (ab jetzt zählt die Haltegriffzeit) ansagt.
Bei Armhebeln und Würgegriffen ist sie in dem Augenblick erreicht, wo der jeweilige Griff die endgültige Ausführung der Technik ermöglicht, also das Überstrecken oder Verdrehen des Ellenbogengelenks bei Armhebeln oder das Abschnüren der Luft- bzw. Blutzufuhr bei Würgegriffen.
Die verschiedenen Ansätze zu einer Analyse der Grifftechniken unterscheiden sich nicht nur durch Anzahl der definierten Techniken und Gruppierung nach gemeinsamen Merkmalen, sondern vor allem durch das zugrunde liegende Technikverständnis. Insbesondere dadurch wie weit von der Endposition der Technik zurück gesehen, vorbereitende Zwischenbewegungen oder sogar günstige Ausgangssituationen mit beschrieben werden, also durch eine eher enge oder weitere Sichtweise der Techniken.
Die Frage bei der Beschreibung der Techniken ist bei der engen Sichtweise nur, „Wie mache ich mit dieser Technik einen Ippon?“ Bei einer erweiterten Sichtweise kommen dann noch Fragen hinzu wie „Was muss ich tun, um in die Endposition zu gelangen?“ und/oder „Was ist ein günstiger Moment, um mit den Vorbereitungen für meine beabsichtigte Technik zu beginnen?“
Unterschiedliche Sichtweisen (Perspektiven) bedingen dann natürlich auch unterschiedliche Erkenntnisse bei der Analyse (und damit auch bei der Lehrweise), je nachdem was der jeweilige Lehrende zu wesentlich hält.
Für das Training der Anwendung der Judotechniken muss man deswegen auch diese drei Phasen jeweils berücksichtigen.
Makikomi Kid schreibt nun:
„Mangelnde Technikvielfalt?
OK, schaun mer mal.
- Ellenbogenstreckhebel
- Auf die Schulter wirkende Armbeugehebel.
- Würger
So arg viel mehr ist doch durch die Judo Regeln in der Prüfung / Wettkampf eh nicht erlaubt, oder?
Geht es um Vielfalt der Anwendung dieser Möglichkeiten, ist die oben beschriebene Methodik nicht optimal, da hier gezielte Situationen gegeben werden, anstatt die grundlegenden Ideen zu vermitteln.
Zeigt den Leuten doch aus der Guard ein paar Eingänge zu Armstreckhebeln. Von da aus zu Sankakujime. Von da zum Streckhebel am anderen Arm.
Wenn er schon sweepen kann, kann man die auch hier einbauen.
Ähnlich verhält es sich mit Kimura und omoplata.
Lasst die Leute spielen und probieren und gebt ihnen Optionen und Möglichkeiten. Dann seht ihr evtl. auch mal solche Szenen auf eurer Judo-Matte:
http://www.youtube.com/watch?feature=pl ... fI22dZ979A“
Makikomi-Kid spricht in diesem Beitrag das Verhältnis zwischen Techniklernen und Anwenden der Technik in einer Kampfsituation an. Er schlägt einerseits vor, zunächst statt vielen Situationen zunächst die "grundlegende Idee einer Technik" zu vermitteln (1.) und diese dann z.B. "aus der Guard mit ein paar Eingängen zu Armstreckhebeln" üben zu lassen (2.). Dann könne man noch Kombinationen zu anderen weiterführenden Techniken üben (3.) Dann sollen "die Leute spielen und probieren".
Grundsätzlich kann man mit diesem Vorgehen Bodentechniken durchaus vermitteln.
Das "Spielen und probieren" sollte jedoch etwas konkreter gestaltet werden. Dafür hatte ich in meinem vorhergehenden Beitrag einige Beispiele zu liefern versucht.
Ich möchte aus meiner Sicht einige der schon zuvor angesprochenen Begriffe näher erläutern und diese in einen größeren Zusammenhang stellen. Dabei soll die (1) Vielfalt der möglichen Techniken, die (2) Vielfalt der Möglichkeiten ihrer Anwendung, die (3) Positionen und (4) Rollen der Handelnden (Uke und Tori), die erlaubten (5) Situationen des Judo-Bodenkampfes sowie die möglichen technisch-taktischen (6) Handlungen und Verhaltensweisen der Kämpfer kurz erläutert werden.
Allein durch diese Aufzählung mag deutlich werden, das Judo-Bodenkampf eine sehr komplexe Angelegenheit sein kann.
1. Technikvielfalt
Die gibt es im Judo durch Armhebel (übrigens bei den Beugehebeln auch auf das Ellbogengelenk) , Würgegriffe und Haltegriffe (die es im BJJ ja nicht gibt bzw. die dort nicht als „submissions“ gewertet werden.) Es gibt keine Hebel an anderen Gelenken, z.B. an den Knien oder Knöcheln (außer in den Kata und der SV).
2. Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten
Diese Vielfalt kann man unterschiedlich verstehen und beschreiben. So kann man bestimmte Grifftechniken als Kombinationen anwenden (z.B. von Haltegriffen zu Armhebeln oder von Armhebeln zu Würgetechniken (oder umgekehrt).
Man kann aber auch davon sprechen, wie man bestimmte Griffe in bestimmten Situationen ansetzt, so z.B. aus der Rückenlage mit Uke zwischen den Beinen oder aus Tate-shiho-gatame als Obermann.
Mann kann also in bestimmten Situationen noch Positionen und Rollen unterscheiden.
Welche Positionen oder Rollen lassen sich für den Judo-Bodenkampf feststellen?
Grundsätzlich kann man im Judo-Bodenkampf die Rollen der beiden Partner nach verschiedenen Gesichtspunkten unterscheiden.
• Neben der klassischen Einteilung nach Tori (toreru= greifen, ergreifen; derjenige, der angreift) und Uke (ukeru= dulden, erleiden; derjenige, der angegriffen wird) kann man
• nach der jeweiligen Lage einen Ober- und einen Untermann unterscheiden. Sowohl als Ober- als auch als Untermann kann man Uke und Tori sein, also angreifen und angegriffen werden.
Während man als Obermann den allgemeinen Vorteil hat, sein Gewicht mit einsetzen zu können, kann man als Untermann (wenigstens in Rückenlage) Hände und Füße zugleich als "Waffen" benutzen.
Welche Bodenkampf-Situationen kann man unterscheiden?
Neben den unterschiedlichen Rollen und Positionen ist es wichtig zu wissen, dass man beim Bodenkampf verschiedene Situationen unterscheiden kann, die in fast jedem Kampf und Bodenrandori wiederkehren. Ich unterscheide:
• den Übergang vom Stand zum Boden infolge eines Wurfes, einer Grifftechnik oder Hikkomi-waza
• die Bank- Bauchlage des Untermanns, wobei der Obermann sich vor dem Kopf, an der Seite oder auf dem Rücken des Untermanns befindet
• die Rückenlage des Untermanns, wobei der Obermann sich vor den Beinen, zwischen den Beinen oder an der Seite des Untermanns befindet, ohne einen Haltegriff angesetzt zu haben.
• die Seitlage von Uke, so wie sie sich oft nach einem Wurf ergibt, wenn Uke durch Abdrehen den Ippon vermeiden will
3. Vielfalt des technisch-taktischen Verhaltens in Bodenkampfsituationen
Das jeweils richtige (d.h. der Situation angemessene) Verhalten hängt im Judo von zahlreichen unterschiedlichen, situativen und individuellen Gesichtspunkten ab, die der jeweilige Kämpfer in der jeweiligen Situation kennen und beurteilen können sollte, so z.B.:
• dem technischen Können und der taktischen Erfahrung der beiden Kämpfer
• dem konditionellen Zustand beider Kämpfer
• dem augenblicklichen Kampfergebnis
• der subjektiven Einschätzung der augenblicklichen Siegchancen durch die Kämpfer
• der allgemeinen psychischen Verfassung der Kämpfer
• der augenblicklichen psychischen Verfassung der Kämpfer
• und einige weiteren Faktoren mehr (z.B. dem gewünschten Ergebnis, was nicht in jedem Fall ein Sieg sein muss...)
In meinem vorhergehenden Beitrag hatte ich versucht, die sehr komplexe Situation Rückenlage eines Kämpfers/Knieposition zwischen den Beinen des Untermanns des anderen Kämpfers aus verschiedenen „Blickwinkeln“ durch konkrete Bewegungsaufgaben zu erfassen, um dadurch den Wettkämpfern Erfahrungen zu ermöglichen, unter der Stresssituation eines Wettkampfes mit „klarem Kopf“ angemessene Entscheidungen treffen zu lernen.
Nach meinen Erfahrungen als Trainer genügt es nämlich eben nicht, einfach nur die Techniken in den jeweiligen Situationen viele hundert Male üben zu lassen – es müssen auch die emotionalen Begleitumstände simuliert werden, unter denen solche Techniken in bestimmten Wettkampfsituationen zur Anwendung kommen können.
Jupp