Hallo Tom,
welchen Stellenwert misst Du den Wurftechniken und eventuell auch den Bodentechniken in realen Kampfsituationen im Verhältnis zu den Atemi zu? Haben sie noch eine Bedeutung, wenn man davon ausgeht, dass der Gegner nach einigen Schlägen oder Tritten kampfunfähig ist? Siehst Du Situationen, in denen die Anwendung von Wurf- und ggf auch Bodentechniken Atemi vorzuziehen ist?
Hallo Jörg,
ich glaube, daß von Seiten derer, die hier mitdiskutieren, sehr oft nicht unterschieden wird zwischen den verschiedenen Kampfdistanzen - und das ist meiner Meinung nach die Ursache für viele Mißverständnisse.
Wurftechniken haben eine EIGENE Kampfdistanz, die sogenannte Ringkampf-Distanz.
Vorher aber gibt es noch die Tritt-Distanz, die Box-Distanz und die "Knie-Ellbogen"-Distanz (auch wenn mancher das bereits in die Wurfdistanz einbezieht).
Ich will wirklich nicht meckern, aber gewöhnlich kennen Sportjudoka im "Stand-Up-Fighting" NUR die Wurfdistanz.
Sie beginnen ihr Randori und ihre Wettkämpfe in eben dieser Distanz, und sie haben dort durch die Keikogi auch etwas, das sie sicher greifen können.
Das ist in einem ECHTEN Ernstfall nun mal NICHT so.
Und echte Kämpfe beginnen fast NIE in der Wurfdistanz, sondern in der Box-Distanz.
Leider machen sich das die meisten nicht klar - oder nehmen es nicht ernst.
Schade.
Nun zu deiner Frage ...
Wurftechnken haben für mich einen sehr, sehr hohen Stellenwert in wirklich gewalttätigen Auseinandersetzungen. Wurftechniken sind etwas, womit Wölfe wenig bis gar nicht vertraut sind.
ABER ...!
Es gibt dabei ein sehr, sehr großes ABER.
Erstens MUSS man sich, um effektiv werfen zu können, in der korrekten Distanz befinden.
Zweitens MUSS man einfach berücksichtigen, daß der Wolf wie wahnsinnig attackieren wird - er wird BEIDE Hände zum Schlagen benutzen (wird auch gern vergessen in dem, was viele so für "SV" halten - der Angreifer ist im Ernstfall KEIN "einarmiger, unbeiniger Bandit auf Valium"!) und daß man einfach NICHT in jenen "Kampf um die bessere Faßart" einsteigen kann, den man aus dem sportlich orientierten Training kennt.
Drittens MUSS man daher auch mit ALLEN ANDEREN Distanzen klarkommen - und zwar sowohl defensiv wie auch OFFENSIV (ich hab ja das entsprechende Kanô-Zitat schon gebracht) - und genau daran scheitert es bei vielen (nicht allen) Sportjudoka in der Regel, weil sie so etwas nämlich nicht hören, geschweige denn üben wollen.
("Aber das ist doch dann kein Jûdô mehr!")
Viertens machen sich viele einen wichtigen Umstand nicht bewußt: man hat im ERNSTFALL
keine zweite Chance.
Eine verfehlte, unwirksame Wurfattacke führt definitiv dazu, daß man plattgemacht wird.
Man kann nicht wie im Sport darauf vertrauen, daß ein fehlgeschlagener Wurfversuch keine schlimme Folgen für einen selbst hat.
Daher sind Wurftechniken im Ernstfall die ABSCHLIESSENDEN Techniken (Todome-Waza), die den Kampf endgültig beenden.
Neben der Kenntnis der anderen Distanzen und der Fähigkeit, in diesen Distanzen sicher zu agieren, gehört aber noch etwas dazu, das sehr gern vergessen oder verdrängt wird: Wurftechniken KÖNNEN im Ernstfall nicht in ihrer "sportlichen" Version ausgeführt werden, wenn man damit einen ernsthaften Kampf beenden will.
Man MUSS "very old school" werfen - und dem Gegner eben KEINE Chance geben, so etwas wie eine (manchmal unbewußte) Fallschule machen zu können.
Man muß den Gegner auf das Schulter-Eck-Gelenk, den Kopf (Schädeldach), das Gesicht werfen wollen und es auch KÖNNEN - und genau DAS sehe ich bei Sportjudoka nicht.
Sie glauben vielleicht, daß sie so werfen könnten, aber ich hab noch keinen getroffen, der das auch wirklich draufhatte.
Man kann Pech haben - und der Gegner ist nach den Tritten und Schlägen die man ihm hat angedeihen lassen, eben NICHT kampfunfähig. Ich schrieb ja schon, daß man damit rechnen muß, daß Wölfe durch ein bißchen Schmerz nicht zu besiegen sind.
Meine persönliche Schmerzschwelle bspw. ist extrem hoch.
Und Wölfe sind es gewöhnt, "auf die Fresse" zu kriegen, verstehst du?
Siehst Du Situationen, in denen die Anwendung von Wurf- und ggf auch Bodentechniken Atemi vorzuziehen ist?
In der Clinch-Distanz.
(Das wäre die zusammengefaßte "Knie-Ellbogen"- und Wurfdistanz).
Aber dort kann man eben auch nur werfen, wenn man gelernt hat, wie das außerhalb der vertrauten Umgebung geht. Wenn es eben keinen Gi gibt, den man greifen kann. Wenn es keinerlei Regeln gibt. Wenn der andere (oder die anderen!) wie wahnsinnig draufdrischt. Wenn man feststellen muß, daß man vielleicht einen "guten Griff" hat, aber trotzdem nicht werfen kann, weil man andauernd "in die Fresse" kriegt, und zwar richtig mit Schmackes.
Wenn Blut fließt und alles glitschig wird.
Wenn bei einem selbst bspw. ein Auge so zugeschwollen ist von den Schlägen, daß man damit nichts mehr sieht.
Bodentechniken sind im Ernstfall einfach nur Verzweiflungstechniken.
Sinnvoll nur, wenn man sicher sein kann, es lediglich mit EINEM Gegner zu tun zu haben.
Sonst wird man nämlich einfach nur "gestiefelt".
Ich kenne viele Sportjudoka ... aber nicht einen, der damit klarkommt, daß er im Bodenkampf plötzlich auch "auf die Fresse" kriegt, und zwar nicht zu knapp.
Das Problem, welches durch die lange Debatte hier (hoffentlich!) deutlich geworden ist, besteht darin, daß SPORT-Judo NICHTS enthält, was man in einem echten Ernstfall einsetzen oder gebrauchen könnte.
Ein ebenso großes Problem ist es, daß Sportjudoka so etwas in der Regel nicht wahrhaben wollen.
Doch wie Fritz schon sagte: es genügt eigentlich schon, wenn man mal ein ganz lockeres Randori macht, in dem (locker) geschlagen werden darf.
Es muß ja nicht jeder so trainieren wie wir.
Aber es wäre doch eigentlich sinnvoll, wenn Sportjudoka endlich mal ein Bewußtsein für diese Art von Problemen entwickeln würden, statt krampfhaft zu verdrängen, daß es so etwas nun mal gibt ... und daß es jeden treffen kann.
FG
Tom