Also ich behaupte keineswegs, die Gokyo enthalte keine innere Struktur. In einem früheren Beitrag schrieb ich, dass man sich sicherlich etwas bei ihrer Formulierung gedacht hätte, sonst hätte man sie nicht verändert.
Ich schrieb ferner, dass über die Entscheidungsgründe keine Aufzeichnungen bekannt seien und dass ich mir von der deutschen Version des Daigo-Buches Aufschluss erhoffe. Desweiteren sagte ich, dass ich mehrere Theorien kennen würde, denen ich aber allesamt nicht trauen würde - was in Bezug auf die Entscheidungsgründe der damaligen Arbeitsgruppe und natürlich Kanos bezogen war, nicht aber darauf, dass sie partiell Gültigkeit haben könnten.
Ich habe auf Drängen einige Beispiele dieser Theorien benannt und Beispiele angeführt, auf die sie zutreffen. Später habe ich, nachdem es so verstanden wurde, dass ich diese Theorien bestätigte, auch Gegenbeispiele zu diesen Gedanken angeführt. Ich habe mehrfach geschrieben, dass man durch geschickte Kombination verschiedener Leitgedanken - nennen wir es einfach einmal mehrdimensionales Denken - dazu kommen kann, die Gokyo als Ganzes zu erfassen. Jedoch habe ich dabei betont, dass dies dann eine eigene gedankliche Leistung (etwas "Selbstgestricktes") ist, und dass man dadurch nicht zu einer Zusammenschau kommen kann, die den Anspruch erheben kann, die Gedanken der damaligen Arbeitsgruppe und Kanos wiederzugeben.
Selbstverständlich finden sich in der Gokyo Strukturen, die man durchaus als methodische Reihen bezeichnen kann. Man findet sogar eine ganze Menge davon. Aber bislang wurden aber keine Quellen von Kano oder anderen Beteiligten gefunden, die bestätigen, dass genau diese Reihen so beabsichtigt waren.
Aber ich stricke jetzt einfach mal:
- de ashi barei --> okuri ashi barai --> harai tsuri komi ashi: die Steigerung der Schwierigkeit ist offensichtlich. Ich habe das Beispiel in einem früheren Beitrag angeführt.
- Ein "Klassiker" ist uki goshi --> harai goshi wie es ja auch in der Kata ist (wurde auch schon angesprochen)
- de ashi barai --> hiza guruma --> sasae tsuri komi ashi ist eine hervorragende Basis für das Fallen in alle Richtungen.
- uki goshi --> o goshi --> koshi guruma --> tsuri komi goshi entsteht durch Variation der Hüftposition und Variation des Griffes
- o-soto gari --> o uchi gari --> ko soto gari --> ko uchi gari: erst außen dann innen (einfacher--> schwieriger), viel viel Kontakt zu wenig Kontakt (einfacher --> schwieriger)
Man kann auch die traditionelle methodische Vorgehensweise der Japaner - was immer auch ihre Begründung dafür ist - einbeziehen. Ich bin mir sicher, dass - sollte es jemals zu einer aus Quellen belegbaren Aufklärung kommen - diese eine Rolle spielen wird. Der klassische methodische Aufbau ist
ashi-waza--> koshi-waza--> te-waza --> sutemi waza.
Zusätzlich kann man sicherlich auch noch die Wurfprinzipien berücksichtigen. Bislang haben wir ja immer nur auf die Klassifikation geschielt.
Die Progression der "barei-" und der "gari"-Techniken habe ich ja oben schon einmal beschrieben. Kommen wir zu "guruma".
Es ergibt sich:
hiza-guruma --> koshi-guruma --> (ashi guruma) --> kata guruma --> (o guruma) --> (o soto guruma) --> yoko-guruma
Scheinbar stören ashi guruma, o gurma und o soto guruma, aber eben nur scheinbar. Sie können als Fortsetzung eines Stranges
uki goshi --> harai goshi --> ashi guruma --> o guruma gesehen werden, nämlich in der Weise dass Tori immer weiter neben Uke steht. Aber warum ist o-soto-guruma dann in der letzten Gruppe? Richtig, weil er erstens untergebracht werden muss und zweitens sonst keine Technik in der Stufe wäre, bei der Uke nach hinten geworfen wird. Die simple Anwendung einer weiteren Theorie, die ich in einem früheren Beitrag erwähnte. Die guruma-Techniken sind also auf zwei Sinnstränge verteilt.
Für "otoshi" ist es auch möglich, eine Linie zu begründen, genauer gesagt ebenfalls zwei Linien
tai-otoshi --> yoko otoshi --> tani otoshi sind
- in drei aufeineanderfolgenden Stufen
- nach dem Prinzip te-waza --> sutemi waza
- decken das Prinzip "otoshi" in drei verschiedene Wurfrichtungen ab.
uki-otoshi --> sumi otoshi sind nach der Schwierigkeit angeordnet und jeweils deutlich schwieriger als die drei anderen. Deshalb kommen sie auch danach.
Weiter oben haben habe ich eine Reihe der ersten Hüftwürfe skizziert. Ich möchte zum Abschluss dieser Betrachtungen einen Sinnstrang der letzten Hüftwürfe erläutern.
Am Ende stehen mit ushiro goshi und utsuri goshi (rückwärts aufgezählt) Techniken, die in erster Line Kontertechniken gegen Hüftwürfe sind. Ukes Hüfte kommt also auf Toris Hüfte zu, während bei den ersten Hüftwürfen Tori mit seiner Hüfte zu Uke muss. Die beiden letzten haben einen Vorgänger: tsuri-goshi!
tsuri goshi --> utsuri goshi --> ushiro goshi finden wir auch fein säuberlich in aufeinanderfolgenden Stufen. Auf
ushiro goshi folgt übrigens direkt ura-nage, der durchaus als "Sutemi-Fortsetzung" des ushiro goshi angesehen werden kann.
So langsam bin ich durch die Gokyo durch und es fehlen nur noch wenige Techniken, wie z.B.
Uki-waza --> yoko-wakare --> yoko-guruma
stehen direkt hintereinander und unterscheiden sich vor allem durch eine steigende Rotation beim Wurf.
Diese Beispiele kann man fortsetzen und die Gokyo nach weiteren Sinnsträngen durchsuchen. Viele Techniken wird man mehrfach in Sinnstränge einordnen können. Es entsteht ein "Sinn-Netz". Mit anderen Techniken wird man sich etwas schwerer tun, aber unterbringen kann man alle.
Da aber keine Aufzeichnungen über die tatsächlichen Begründungen bekannt sind, kann man auch nicht auf verlässliche Kriterien zurückgreifen. Wir müssen leider festzustellen, dass sich einfach Leute irgendwelche Kriterien ausgedacht haben - denn woher kämen denn die Theorien, die sich ganz einfach widerlegen lassen, wie die "Lieblingswurftheorie". Manche dieser Kriterien ist aber durchaus zuzutrauen, dass sie damals ein Rolle spielten, aber wie schrieb ich: "so richtig trauen tue ich keiner", weil ich nicht weiß, wer sich was ausgedacht hat und was authentisch ist.
Es schleichen sich auch ganz schnell sich widersprechende Sinnstränge ein. Zum Beispiel ist es unstrittig, dass Bewegungsverwandtschaften meistens zum leichteren Erlernen einer Technik dienlich sind, andererseits aber einer Bewegungsvielfalt im Wege stehen. Findet man also in der Gokyo Bewegungsverwandtschaften, lässt sich leicht argumenteren, dass dies wegen der Erlernbarkeit im Sinn einer "methodischen Reihe" so ist. Findet man vollkommen unterschiedliche Techniken vor, lässt sich das bequem mit einer beabsichtigten Bewegungsvielfalt begründen.
Bewegungsverwandtschaft und Bewegungsvielfalt lässt sich also als antagonistisches Begründungspaar jederzeit hineininterpretieren. Eine Begründung von beiden passt (fast) immer. Mehrdimensional hört sich aber besser an als "beliebig".
Letztlich habe ich oben hauptsächlich auf verwandte Bewegungen oder verwandte Wurfprinzipien (erkennbar an den Namen der Techniken) zurückgegriffen.
Die Verteilung der aufgezeigten "methodischen Reihen" auf die einzelnen Stufen lassen sich dann nochmals mit weiteren der bisher schon Prinzipien begründen:
In die ersten beiden Stufen viel ashi- und koshi-waza und nur jeweils eine grundlegende te-waza, in der dritten Stufe beginnen wir vorsichtig mit den sutemi-waza, die in der letzten Stufe den Schwerpunkt bilden und in jeder Gruppe sollen alle Wurfrichtungen abgedeckt sein.
Drei Techniken habe ich noch nicht erwähnt: die beiden hane-maki-komi und soto-maki-komi sind die natürlichen Fortsetzungen derjenigen Hüfttechniken, bei denen sich Tori eindreht, ganz nach dem Prinzip koshi-waza --> (te-waza) --> sutemi-waza.
Und noch eine fehlt: ko soto gake. Ein Blick auf die Gokyo und wir erfahren sofort, wie er einzuordnen ist. die jeweils ersten Techniken der ersten drei Stufen sind:
de ashi barai --> ko soto gari --> ko soto gake
Das waren sie nun alle, hübsch mehrdimensional verpackt und nur die bekannten Theorien angewendet.
Bei mir bricht sicher kein Kartenhaus zusammen ob der Tatsache, dass man eine innere Struktur in der Gokyo finden
kann. Ich habe nie etwas anderes behauptet - im Gegenteil sogar geschrieben, dass man es kann und ich es tat - und niemand wird hoffentlich die Schlüssigkeit auch einer einzigen Reihe oder Begründung in Anwendung der bereits beschriebenen Theorien leugnen.
Man kann nun andere Sinnstränge hinzufügen und das Netz dichter spinnen. Dadurch machen wir das Ganze "mehrdimensionaler".
Aber merkt ihr, was ich getan habe? Ich habe - in Ermangelung von Aufzeichnungen - nicht belegbare Theorien, die ich irgendwo aufgeschnappt habe (denen aber auch nirgendwo widersprochen wurde) , zusammengefügt und als Folie benutzt, um mir ein Bild von der Struktur der Gokyo zu stricken. Apropos widersprechen: solange keine Aufzeichungen über die Entscheidungsgründe vorliegen, kann man ganz wild spekulieren. Mit "Mehrdimensionalität" kommt man immer weiter.
Aber das sind nicht die Gedanken Kanos, Mifunes und den anderen, die die Gokyo so zusammengestellt haben. Es sind in der endgültigen Zusammenschau meine Gedanken, in die ich natürlich viele Ideen anderer integriert habe.
Jeder andere, der behauptet, er wisse wie die Gokyo aufgebaut sei, hat entweder dasselbe getan wie ich, plappert etwas nach, was ihm irgendwer erzählt hat (woher stammen dessen Infos?) oder verfügt über Quellen, die bislang nicht veröffentlicht sind.
Wenn jemand darüber verfügt, bin ich der erste, der daran interessiert ist. Diese Frage hat mich über Jahre interessiert. Ich stand vor dem Berg, es gab auch Bergführer (Fortgeschrittene) bis hin zu höchsten Dan-Trägern, die mir allerlei Flöhe in die Ohren gesetzt haben. Ich habe den Berg bestiegen und erforscht. Nun bin ich wieder unten und sage Euch: es ist nur ein Berg - lasst Euch nichts anderes einreden. Ihr müsst ihn selbst entdecken.