Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergleich

Hier geht es um Fragen zur Vereinsarbeit, Verbänden und Organisationen
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tutor!
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Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergleich

Beitrag von tutor! »

Immer wieder tauchen Spekulationen um die Ursachen von Mitgliederentwicklungen auf. Hier kann ich zwar im Moment nicht weiter dienen, aber da es in NRW einen Dachverband für Budotechniken gibt, der verschiedene Budo-Disziplinen "betreut" und seine Mitgliedszahlen seit 2000 veröffentlicht hat, möchte ich an dieser Stelle einmal nacktes Zahlenmaterial in die Runde werfen. Die kompletten Zahlen gibt es hier: http://www.budo-nrw.de/Statistik/2008.htm (zu den Vorjahren geht es durch einen Link unten links).

Der Anteil von Judo an den Gesamtzahlen ist von 62% im Jahr 2000 auf 57% im Jahr 2008 gesunken. Das ist ein deutlicher Wert. Der Anteil der Jugendlichen (Judo in Relation zur Gesamtzahl) blieb in diesem Zeitraum insgesamt relativ konstant bei 62%.

Für die folgenden Auswertungen habe ich Gruppen gebildet:
- Judo
- Karate, Taekwondo
- Ju-jutsu, Jiu-jitsu, Gsohi-Jutsu, Hapkido

Trend bei den Erwachsenen:
  • Beim Judo kann man von einem kontinuierlichen Rückgang seit dem Höchststand 2001 von 15.676 auf 14.146 um 9,75% sprechen.
  • Karate/TKD hatte ein Maximum von 8195 in 2002 und um 15,9% auf 6.891 im Jahr 2008 gefallen.
  • Fur die JJ/HKD ergibt sich ein Rückgang um 14,77% seit 2000 (von 6.586 auf 5.613), wobei im Jahr 2004 knapp der Stand von 2000 erreicht war. Der Rückgang ist also jüngeren Datums.
Fazit: das Judo hat im Erwachsenenbereich über den Gesamtzeitraum überraschenderweise einen geringeren Rückgang als die Summe der anderen Disziplinen.

Unsicherheiten: nicht eingerechnet sind Wushu, Kendo und Aikido, sowie ein Jiu-Jitsu-Verband. Außerdem sind naturgemäß nur die Verbände erfasst, die auch dem Dachverband angehören.

Trend bei den Kindern:
  • Judo: Max im Jahr 2001 mit 53.359, gesunken auf 43.164 (i.J. 2008), entspricht einem Rückgang von 19,1%
  • Karate/TKD konnte seine Jugendzahlen halten, während JJ/HKD um 10% zulegen konnte (alles bezogen auf 2000-2008)
Jedoch musten auch die anderen Bereiche später Federn lassen:
  • Karate/TKD hat bis 2002 geboomt und danach bis 2008 doch noch 11,4% verloren.
  • JJ/HKD hatte den Höchststand 2005 und seitdem (bis 2008) 6% verloren.
Fazit: die anderen Bereiche konnten länger Zuwächse verzeichnen als Judo, befinden sich aber nun auch in einem Abwärtstrend
Probleme der Vergleichbarkeit: nicht erfasst wurde die Altersstruktur innerhalb der Jugendlichen.
Unsicherheiten wie oben!

Ich hoffe, ich hab mich jetzt nirgendwo vertan - und falls doch, übernehme ich selbstverständlich die Verantwortung dafür ;)
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von judoka50 »

Ich habe mir darüber auch schon sehr viele Gedanken gemacht. Übrigens sind die Rückgänge bei den Jugendlichen auch in anderen Sportarten sehr deutlich zu spüren - bis hinunter zum Fußball.
Wir haben unser Training und auch die über das Jahr verteilten gesellschaftlichen Aktivitäten für die Kinder kaum merklich geändert. Im Gegenteil, vor dem Mitgliederschwund bzw. zusammen mit diesem, habe ich eine deutliche Turniermüdigkeit empfunden.
Zitat einer Mutter nach einem Turniertag 9:00 - 17:00 Uhr - "Ich arbeite die ganze Woche, da habe ich etwas anderes zu tun als mich für 2, 3, 4 Kämpfe meines Kindes die ganze Zeit mit allen anderen des Vereines in der Halle aufzuhalten. - Meine Antwort: Da bin ich froh, dass ich 3 mal die Woche "nach der Arbeit" für ein paar Pfennige ihr Kindermädchen und am Wochenende der Familienanimateur sein darf. - Abgerauscht und nicht wieder gesehen....
Spricht aber Bände für das Denken vieler Eltern - Wenn jeder an sich denkt - ist an alle gedacht.
Bereitschaft bei den Kindern wie Eltern für soziales Engagement - gleich 00.
Hinzu kommt die Vermehrung der OGS - meiner Meinung nach für die Kinder ein kleineres Problem. Wir waren früher auch den ganzen Tag auf Achse.
Auch hier glaube ich liegt es in der Eingewöhnungsphase vielfach an den Eltern, die ihr Kind nicht überbelasten wollen oder zu faul sind, so direkt nach dem Abholen aus der Schule es schon wieder zum Sport bringen zu müssen. - Ich glaube dieser Part wird sich mit der Zeit wieder normalisieren.
Weiterhin habe ich, wie auch viele Lehrer, die AG's anbieten, feststellen müssen, dass die Kinder (trotz ihrer Bewegungslegasthenie - gegen die sie eigentlich etwas tun sollten) nicht mehr so bereit sind, wie vor einigen Jahren, sich für Sport zu quälen.
Bezüglich der KK-Interessenten habe ich, insbesondere bei Ausländern festgestellt, dass diese Probleme mit "Vereinen" (außer Kulturverein) haben und ihre Kinder lieber in einschlägige Sportschulen schicken, weil viele in den Anfangsjahren ebenfalls von ausländischen Mitglieder gegründet wie Pilze aus dem Boden schossen. Viele sind halt auch der Meinung, in einer Schule ist ein Lehrer und in einem Verein nur ein Übungsleiter. Klar - da ist ein Lehrer schon einige Euro wertvoller.
Dann kommt noch hinzu, dass es nunmehr auch in Sportvereinen Taekwondogruppe, Karate usw. von türkischen Dan-Trägern / ÜL also nicht wie bisher in Schulen gegründet wurden. Diese haben zum einen wegen ihres "Zusammenhaltes", sind übrigens auch sehr viele türkische Mädchen darin, aber auch aufgrund der sich in dieser Hinsicht deutlichen Änderung der Bevölkerungsstruktur und der damit verbunden größeren "Freizeit" im Verhältnis zu vielen deutschen Mitbürgern, derzeit steigende Mitgliederzahlen.
(Lustige Begebenheit dazu - im Augenblick gibt es bei uns Angebote für türkische Frauen, Fahrrad fahren zu lernen. Die Kurse sind derzeit ausgebucht....)
Viele Grüße
U d o
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von tom herold »

Fazit: die anderen Bereiche konnten länger Zuwächse verzeichnen als Judo, befinden sich aber nun auch in einem Abwärtstrend
Nicht berücksichtigt wurde der stärkste "Wachstums-Markt", der beim Grappling, den MMA, den FMA, beim Krav Maga und anderen Hybridsystemen liegt.
Ebenfalls nicht berücksichtigt wurde der rasante Zuwachs beim BJJ, beim Luta Livre, beim Vale Tudo und beim Freefight.

Insofern sagt ein solcher Vergleich überhaupt nichts aus.

Anmerkung: Taekwondo ist KEINE "Budô-Disziplin"! Und das, was einige Leute "Goshin Jutsu" nennen, ist ebenfalls KEINE "Budô-Disziplin"!
Da aber diese Systeme mit berücksichtigt wurden, halte ich es für legitim, auch andere Systeme zu erwähnen - und zwar die, welche bundesweit rasante Zuwächse zu verzeichnen haben.

FG
Tom
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von kastow »

Aussagekräftig werden diese Zahlen eh erst, wenn sie in Relation zur Bevölkerungsentwicklung gesetzt werden. Auf die Schnelle: Von 2001 bis 2008 ist in NRW die Zahl der Unter-14-Jährigen um 7,5% gesunken. Wer intensiver rechnen möchte: Zahlen NRW 2001, Zahlen NRW 2008
Herzliche Grüße,

kastow

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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von tutor! »

böser tom hat geschrieben:Nicht berücksichtigt wurde der stärkste "Wachstums-Markt", der beim Grappling, den MMA, den FMA, beim Krav Maga und anderen Hybridsystemen liegt.
Das ist klar, weil es sich um die Zahlen des Dachverbands für Budotechniken handelt (dort ist TKD organisiert, deshalb enthalten) und natürlich nur dessen Mitglieder hier zählen.

Für Zahlen der von Dir erwähnten Systeme wäre ich sehr dankbar.
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von judoka50 »

Wer sich noch mehr mit der allgemeinen Sportentwicklung beschäftigen möchte:
http://www.wir-im-sport.de/templates/ls ... &nodeid=35

Ansonsten schaut mal unter google - Mitgliederschwund - ogs oder ähnliches. Es ist erschreckend was dort alles erscheint - also liegt es doch nicht nur an uns ÜL und an unseren Angeboten.
Viele Grüße
U d o
tom herold
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von tom herold »

Hallo Tutor,
ich bemühe mich, valide Zahlen zu bekommen, das kann aber etwas dauern, da es sich nicht um KK handelt, die in einem "Dachverband" zusammengeschlossen sind.
Der prinzipielle (Aufwärts)Trend in diesen Disziplinen geht aber aus den (offiziellen) Veröffenlichungen diverser Organisationen (die nicht im DOSB organisiert sind) ohnehin hervor.

FG
Tom
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von judoka50 »

@ Tom
trainieren die nach Deinen Erfahrungen überwiegend in öffentlichen Hallen oder mehr in Privatschulden o.ä.?
Bei vielen Judo Vereinen meines Kreises sind nämlich durch die OGS Hallenstunden für den Schulbereich bis vielfach 16:00 Uhr
in Anspruch genommen worden. Dadurch gab es enorme Verschiebungen, da den Gruppen, die bisher schon ab 15:00 Uhr die Stunden fehlen.
Demzufolge haben die Sportämter vieles neu verteilen müssen und die Judogruppen, die vielfach ab 16:30 Uhr anfangen, haben sehr darunter gelitten.
Viele Grüße
U d o
tom herold
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von tom herold »

Hallo Udo, diese Frage läßt sich nicht einfach so beantworten.

Ich kenne viele, die MMA, Grappling usw. trainieren und dafür entweder einen ganz normalen Verein gegründet haben (also KEINE "kommerzielle Schule eröffnet haben) oder sich schlicht und ergreifend einem Mehrsparten-Verein angeschlossen und dort eine neue Abteilung aufgemacht haben.
Warum auch nicht? Dem Verein bringt's zahlende Mitglieder, und die Jungs bekommen Trainingszeiten.

Ich kenne aber auch andere, die durchaus so etwas wie kommerzielle Schulen eröffnet haben.
Nur haben die dann in der Regel auch eigene Räumlichkeiten angemietet (oder gekauft).

FG
Tom
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von judoka50 »

Wenn ich dann davon ausgehe, dass es sich um ältere - Jugendliche und Erwachsene handelt, werden die auch in der Regel spätere Trainingszeiten haben und daher sind daher schon von dem derzeit schwer nachvollziehbaren Mitgliederschwund nicht direkt betroffen.
Ich und auch einige andere, nicht nur Judo, versuchen irgendwie die Ursachen zu ergründen.
Alle Betroffenen, Leichtathletik, Fußball usw. haben die gleichen Probleme und haben nichts in ihren seit Jahren erfolgreichen Trainingskonzepten geändert. ???
Viele Grüße
U d o
tom herold
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von tom herold »

Ich weiß nicht ... ich glaube, daß bei der Betrachtung dieser Problematik (Mitgliederschwund im Kinder- und Jugendbereich) einfach außer acht gelassen wird, daß sich die "Freizeit"-Gewohnheiten von Kindern und Jugendlichen extrem verändert haben.

Es ist zwar eine Binsenweisheit, aber wer sich mal ansieht, welches Pensum Schüler (Gymnasium) heute so zu bewältigen haben ... inklusive Nachhilfe ...
G8 bedeutet (bei mir trainieren Lehrer!), daß der Stoff von 13 Schuljahren einfach in 12 hineingequetscht wurde.
Weil die Kultusministerkonferenz das für angezeigt hielt - und die Lehrerkollegien können nun zusehen, wie sie das bewältigen; Hilfestellung von eben diesen Kultusministern bekommen sie nicht.

Das ist das eine.
Zum anderen gestaltet der Computer einen großen Teil der Freizeit von Kindern und Jugendlichen.
Die "Freiwilligen Feuerwehren" suchen (im ländlichen Umkreis) händeringend nach Nachwuchs.
Wo gab es denn das bisher, daß Jungs so um die 12 sich NICHT für die Feuerwehr interessieren ...?

Alle Vereine, alle Sportarten sind betroffen.
Und auch die "böse Konkurrenz" der "kommerzielle Anbieter" bleibt da nicht verschont, im Gegenteil.
Kommerzielle Anbieter sind teurer als "normale" Vereine (logisch).
Da kommt zum Desinteresse des Kindes / des Jugendlichen auch noch der Kostenfaktor ...
Ich weiß es, weil ich einige Vertreter örtlicher (und bundesweit agierender) kommerzieller Schulen kenne.

Kinder und Jugendliche haben heute oft auch jene "Zapping"-Mentalität, die ein ernsthaftes und langjähriges Training völlig unmöglich macht.
Wenn's anstrengend wird, wenn's nicht SOFORTIGEN Lustgewinn ("Spaß") verspricht, dann macht man es eben nicht.

Der Aufwärtstrend bei den Grapplern/Ringern, beim MMA, bei den FMA, beim Krav Maga usw. beruht nicht darauf, daß denen massenweise Kinder oder Jugendliche zulaufen.
Es sind Erwachsene, die denen die Bude einrennen.
Ich z.B. habe allein im vergangenen Vierteljahr 10 (!) Erwachsene/Jungerwachsene bei uns aufgenommen.

Was Kinder angeht ... ich denke, wir "retten" deshalb so viele über die Pubertät, weil wir ... tja, weil wir eben ein Rudel sind.
Weil sie wirklich dazugehören - und sich das aber eben erstmal VERDIENEN müssen.
Weil sie wissen, daß ich mich für jeden von meinen Jungs in Stücke reißen lassen würde.
Weil wir darüber nicht reden müssen - sie WISSEN es.
Und natürlich veranstalten wir schon mit den "Kleinen" sehr viel außerhalb des "normalen" Trainings. Da wird vorgelesen, da werden Ausflüge gemacht ...
Ich hab die Zeit, weil ich sie mir nehme.
Andere können das nicht, das weiß ich.


FG
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von tutor! »

Die Frage ist doch nicht, ob andere dieselben Probleme haben wie Judo, sondern ob Judo die vorhandenen Möglichkeiten ausschöpft, ob es Optimierungsmöglichkeiten gibt und ob diese genutzt werden.

Es gibt Rahmenbedingungen, die man nun einmal nicht ändern kann. In NRW (und auch anderswo) gibt es einige Faktoren, die zahlenmäßig auch das Kinderjudo durchschlagen:
  • vermehrte Ganztagsschulen vor allem in der Grundschulen -> weniger Hallenzeiten für Vereine
  • Umstellung des Gymnasiums von 9 Jahren auf 8 Jahre, Folge: 2. Fremdsprache ab Klasse 6 -> Verstärkung des Leistungsdrucks, mehr Wochenstunden insgesamt
  • allgemeiner Bevölkerungsrückgang
Unter diesen Rahmenbedingungen wird es wohl kaum eine Sportart oder Freizeitbeschäftigung für Kinder und Jugendliche geben, die auf hohem Niveau weiter boomen kann.

Das Judo hat aber - zumindest in den meisten Vereinen - in den vergangenen Jahren viele Chancen regelrecht verpennt. Es gäbe einige Chancen und Ansatzpunkte:
  • Jugendliche oder junge Erwachsene als Einsteiger: ein richtig dickes Problem für viele Vereine! Es fehlen passende Gruppen. Diejenigen "Späteinsteiger", die wirklich auch (sportlich) kämpfen wollen, bekommen jahrelang richtig auf die Mütze oder kommen in "Breitensportgruppen", in denen Randori fast schon ein Fremdwort ist.
  • Kinder unter 7: Das Programm "Judo spielend lernen" erhält überall, wo sich jemand damit beschäftigt, sehr gute Kritiken. Aber es darf auch nicht übersehen werden, dass es dem DJB und den LV Mitgliederbeiträge kostet, wenn die Kinder erst mit 7 Jahren eine Prüfung machen können.
  • Selbstverteidigung: Grundlegende Verteidigungsfähigkeiten für alle war eines der wesentlichen Erziehungsziele Kanos und es gibt ein offensichtliches Bedürfnis danach - das Judo der weit überwiegenden Vereine im DJB kommen dem nicht nach.
Es gibt noch eine Reihe anderer Dinge, die man optimieren kann. Ich habe jetzt hier aber nur diejenigen aufgeschrieben, die schon länger im DJB diskutiert werden. Aber es muss ja auch auf der Matte in den Vereinen ankommen.
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von judoka50 »

Kinder unter 7: Das Programm "Judo spielend lernen" erhält überall, wo sich jemand damit beschäftigt, sehr gute Kritiken. Aber es darf auch nicht übersehen werden, dass es dem DJB und den LV Mitgliederbeiträge kostet, wenn die Kinder erst mit 7 Jahren eine Prüfung machen können.
Gute Kritiken zum einen ja ....... Aber.
Die überwiegende Zahl der Vereine lehnt es schon aus Kostengründen für den Erwerb der Materialien ab. Für viele ist es eine erhebliche Mehrarbeit, so dass eine große Zahl lieber bei dem "seit langem funktionierenden System" der gelben Erfolgsstreifen am Gürtelende (oder ähnliche Systeme) bleiben.
Alle aber sind der Meinung dass der "offizielle" Einstieg der Prüfung mit 7 Jahren zu spät ist.
Viele Grüße
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von tom herold »

Es war hier - und in einem anderen Faden - auch von den Erwartungen / Vorstellungen der Eltern die Rede.
Dazu ein für mich sehr irritierendes Beispiel ...
In einem kleinen dörflichen Nachbarverein erlebte ich vor etwa einem Jahr Folgendes mit:

Die Kinder (Anfänger, alles Jungs, zwischen 11 und 14) üben Wurftechniken, machen Uchi-Komi.
Am Rande sitzen einige Mütter und schauen zu.
Tuscheln.
Schütteln die Köpfe.
Werden lauter.

Der Übungsleiter (ein "alter Hase") sagt Randori an.
Reaktion der Jungs: unterdrücktes, leises "Na endlich!"
Dann legen sie los.
Mit Feuereifer.

Und da ... da steht doch eine dieser Mütter auf und ruft ganz laut: "Halt! Aufhören!"
Aller erstarrt.
Vollkommen verblüfft sehen Übungsleiter und Kinder (und ich) diese Mutter an.
Die nun als Sprecherin der anderen fünf Mütter agiert.

"Wir haben das eben besprochen. Wir wollen unsere Kinder friedlich und gewaltfrei erziehen. Wir sind strikt dagegen, daß Sie hier die Kinder wie wilde Tiere aufeinanderhetzen!"

"Aber Frau X., Jûdô ist eine Kampfsportart. Da wird nun mal gekämpft. Die Regeln sorgen ja dafür, daß niemandem etwas passiert -"

"Unsinn! Hier wird absichtlich die Lust an der Gewalt gefördert! Sie haben doch vorher so nette Übungen gemacht, machen Sie das doch weiter! Da haben die Kinder doch gut miteinander geübt und nicht so gewalttätig gekämpft gegeneinander wie jetzt!"

"Frau X., ich glaube, Sie haben nicht so ganz verstanden, was wir hier machen. Das ist Jûdô. Das ist ein Kampfsport. Da wird gekämpft. Und da werden auch Wettkämpfe gemacht. Auf diese Wettkämpfe bereiten wir uns hier vor."

"Sie wollen mir erzählen, daß sie sowas auch in den Wettkämpfen machen? Gut daß ich das weiß. Finn-Ole, komm sofort her. Geh dich umziehen, Hier bleibst du keine Minute länger!"

Finn-Ole, ein 13jähriger Anfänger (weiß-gelb), mault zwar, fügt sich aber widerstandslos den Anordnungen der Frau Mama.
Die anderen Mütter holen ihre ach so gefährdeten Söhnchen ebenfalls von der Matte.
6 Jungs weniger in der Anfänger-Trainingsgruppe.

:irre :BangHead

Wenn ich's nicht selbst miterlebt hätte ...

FG
Tom
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von kastow »

Schlimmer geht immer:
Vor einigen Jahren wurde mir ein verschüchterter Jugendlicher zum SV-Training gebracht, damit er selbstbewusster würde und sich zu verteidigen lerne. Nun ja, nach knapp zwei Monaten wollten ihn dann drei schulbekannte Individuen abziehen. Ich sage mal so: mein Jugendlicher verfügte über die schlagkräftigeren Argumente und kam mit einem blauen Auge davon, während die drei Angreifer etwas übler aussahen. Anschließend wurden die drei Angreifer noch in einer Schulkonferenz zu einer Strafe verdonnert, da es ausreichend Zeugen, unter anderem Mitglieder des Lehrkörpers, gab. Meinem Jugendlichen wurde ausdrücklich von Seiten des Lehrerkollegiums bestätigt, dass er sich nur verteidigt und absolut angemessen reagiert hatte. So weit so gut.
Dummerweise hatte die Mutter des Jugendlichen die drei Täter nach der Verteidigung im lädierten Zustand zu Gesicht bekommen. Sie kündigte sofort die Mitgliedschaft des Jungen bei uns. Schließlich sollte der Junge lernen, sich zu verteidigen, und nicht zum Schläger erzogen werden! :irre
Herzliche Grüße,

kastow

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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von Ronin »

ok, es gibt halt Eltern, die ihre Kinder besser ins Hallenhalma stecken sollten.

Ich denke (und hoffe inständig) dass sich diese Blödheit nicht fortpflanzt.
Ich gehe jetzt einmal davon aus - Judo hat ja immer noch das Image von Kämpfen, auch das Sportjudo - dass die meisten Leute schon wissen, dass es irgendwie ums Kämpfen geht und das auch so akzeptieren.
Was bei den hier geschilderten Exemplaren für ein Kurzschluss passiert ist weiß ich nicht, will aber auch nichts davon wissen, wie gesagt, Hallenhalma ist ja auch eine echte Alternative.

Ich hatte mal eine Mutter, die sich darüber beschwert hat, dass ihr Kind nach dem Training immer so verschwitzt ist.... :eusa_doh :help

Die Frage ist, wie hält man die verbleibenden anderen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich - wie von Tom schon ausgeführt - die Lebensumstände der Kinder/Jugendlichen massiv geändert haben.

Und wie gewinnt man Erwachsene und kann sie halten bzw. einbinden.
califax
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von califax »

Ronin hat geschrieben: Und wie gewinnt man Erwachsene und kann sie halten bzw einbinden.
Tja, mal von einem Erwachsenen:

Mich kriegt man zum Beispiel mit Dehnungsgymnastik und BWE.
Basketball, Hallenfußball, Rundenhüpfen, etc. sind toll für Kinder.
Aber ich muß vor dem Sport keine überflüssige Energie mehr abbauen. Wirklich nicht. :D
Ich muß Muskeln aufbauen, Wampe reduzieren, Beweglichkeit gewinnen.

Mich vertreibt man mit straffem Gürtelprogramm, weil ich erstens zu alt für solche Statussymbölchen bin und zweitens auch andere zeitliche Bedürfnisse habe als Kinder. Ich muß halt alles gründlicher und häufiger üben und messe meinen Erfolg an Dingen wie Kondition, Beweglichkeit, stabiler Stand, effizienter Krafteinsatz, etc. und nicht an schnell herbeigepaukten und m.E. wertlosen Urkunden.

Mich kriegt man mit Nahkampf. Ich bin nämlich schon alt genug für die bösen Seiten des Lebens. Ich darf schon wissen, wie man Menschen tötet. Mich holt auch keine entsetzte Mami ab, wenn ich mit Messern und Stöcken spiele. Ich bin tatsächlich schon erwachsen und möchte auch so behandelt werden.

Mich vertreibt man mit Vorbereitung auf Wettkämpfe nach bescheuerten Regeln.

Mich kriegt man mit SV-Relevanz, mit funktionierenden Techniken. Ich weiß nämlich schon, wie das Leben außerhalb der Turnhalle so spielt und daß man sich Feinde nicht mit Geseier oder Gürtelfarben vom Leib hält.

Mich kriegt man mit regelmäßigem Abendtraining. Man vertreibt mich mit ständigen Ferienpausen und kindgerechten Trainingszeiten.
"To possess a high grade means nothing. Ever since martial arts were born, the grade of someone is what he can do in battle."
(Kacem Zoughari.)
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Re: Mitgliederentwicklung versch. Budo-Disziplinen im Vergle

Beitrag von Fritz »

Ja, diese "Wasch mir den Pelz aber mach mich nicht naß"-Einstellung greift wohl immer weiter um sich.

Gottseidank hatten wir so was noch nicht im Verein...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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