Meine konkrete Frage wäre, ob jemand die „Quelle“ der Judowerte kennt? Worauf beziehen sich diese? Hat Kano diese jemals wo aufgelistet / erwähnt?
Beziehen sich die „Judowerte“ auf die 7 Tugenden der Samurai aus dem Buch „Bushido“ von Nitobe? Sind es dann nicht eher Budo-Werte und gelten auch in anderen Budo-Disziplinen?
Kennt ein japanischer Judoka diese Werte auch oder sind die „Judowerte“ eine vereinfachte Darstellung japanischer Kultur für den Westen?
Ich möchte den „Judowerten“ nicht ihren positiven Aspekt abstreiten, sondern nur ihre Entstehung hinterfragen.
Leider konnte ich bei meiner Recherche keine Entstehungsgeschichte bzw. Quellenangabe seitens des DJB finden.
Na ja.
Natürlich gibt es für diese Werte oder Tugenden in der japanischen Kampfkunst- und Samurai-Historie diverse Entsprechungen.
Relativ simpel z. B. 礼 (Chinesisch li / Japanisch rei), was meist mit Höflichkeit oder Respekt übersetzt wird. (Den Gehalt von 礼 aber sehr verkürzt, m. M. n.)
Oder natürlich 勇, Mut oder Tapferkeit.
Oder 信, Aufrichtigkeit, Wahrheit.
Etc. etc.
Den einen Kern bilden die Tugenden, wie sie in den konfuzianischen Schriften aufgezeichnet und ausgedeutet sind (z. B. Lunyü, Liji, Menzius). In Japan haben dann diverse Samurai und Gelehrte (oder Samurai-Gelehrte) eine Unzahl von Texten verfasst, in denen diese und noch viele andere Tugenden ausgebreitet werden.
Kurzum: die "eine Quelle" gibt es für diese Tugenden nicht, und ich glaube kaum, dass im DJB sich da groß Gedanken zu gemacht wurde.
P.S.
Bushidô und Budô wäre nochmal ein weiteres umfängliches Thema.
'Jigoro Kano' hat sich diese Aufzählung nicht ausgedacht, diese Liste stammt originär aus dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts - eine Schöpfung des DJB.
"Freundschaft" hatte man wohl vergessen, dieser Makel wurde nun behoben. 'Pünktlichkeit' und 'Sauberkeit' fehlt weiterhin ...
HBt. hat geschrieben: ↑27.12.2021, 10:31
"Freundschaft" hatte man wohl vergessen, dieser Makel wurde nun behoben. 'Pünktlichkeit' und 'Sauberkeit' fehlt weiterhin ...
Würde für mich mit unter "Wertschätzung" laufen. Aber das Thema der Ausgestaltung, der Befüllung, der Konkretisierung ist ja sowieso kein Einfaches.
Ein Eindruck der sich mir aufdrängt ist, dass man sich über das "Was" einigermaßen einig ist, das "Wie" aber offenbar nicht mehr einfach nur durch den Sport und die Betätigung selbst zu vermitteln ist. Vielleicht durch zu starke Nebeneinflüsse? Mit anderen Worten: Die Konzentration auf das Training fällt meiner Erfahrung nach sowohl Kindern als auch Erwachsenen immer schwerer. Nicht zuletzt mir selbst.
Will man diese sogenannten "Judowerte" tatsächlich von anderen Schemata im positiven Sinne abgrenzen, müsste man sich sowohl in Theorie als auch Praxis deutlich intensiver mit denen und der Vermittlung dieser beschäftigen, freilich ohne die sportlichen, gemeinschaftlichen usw. Aspekte zu vernachlässigen. Denn wie ich mutmaßte: Der Sport selbst, die Ausübung allein, bringt dies in der Fläche nicht mehr wie selbstverständlich mit.
Vermutlich wird man sich die meisten Werte bzw. halbwegs passende Entsprechungen auch aus den Texten und Vorträgen Kanos herausklamüsern können. Auch wenn sie bestimmt nicht als "die Liste" von ihm so niedergeschrieben wurden.
Und schon haben wir den Salat...was von all den genannten Schlagwörtern sind sogar ganze Konzepte, echte Prinzipien, Werte im eigentlich gemeinten Sinn, durchsetzbare oder freiwillige Verhaltensregeln oder auch nur bloße Zuschreibungen, etc....
Wodurch zeigt sich das jeweils, warum brauchen wir das, was wollen wir damit bezwecken, wie setzen wir das um...wie lassen sich diese nachhaltig nutzen, wie vermitteln wir das?
Etwas polemisch ausgedrückt: Für mich zeigen sich "Judowerte" wie ein paar Begriffe (eigentlich ja nur Schlagwörter) auf einer bunten Tafel abgedruckt, die man wohl selbst in Hundeschulen so ähnlich finden kann.
Ein paar Beispiele der Umsetzung aus der Praxis (fortgeschrittenes Erwachsenentraining):
Höflicher Knoblauchgeruch, freundschaftliches (Rein-)Würgen, ehrlicher Verzicht auf unnötiges Verbeugen, wertschätzendes, bewusstes gegen Knöchel oder Schienbein treten, hilfsbereites Liegenlassen nach dem Werfen ohne Kontrolle, bescheidenes Jubeln im Randori während Uke sich wälzt, selbstbeherrschtes und lautstarkes Ablehnen von Partnern, ernsthaftes Rumsitzen und Aussetzen ungeliebter Übungen, respektvolles Davonstehlen und Nichtwiederkommen, mutiges Auswählen grundsätzlich schwächerer Trainingspartner, vorzugsweise junger Frauen...
Vom Alltag abseits der Matte fange ich gar nicht erst an (eine illustre Sammlung besonders unfeiner Beispiele gibt es ja auch hier im Forum).
Man könnte einwenden, dass meine Schilderungen sich auf Erwachsene beziehen. Aber auch die haben i.d.R. mal als Kinder Judo trainiert.
Man muss auch nicht mit der Lupe nach Tatbeständen suchen, die irgendwie nicht den Judowerten entsprechen und dementsprechend sanktioniert worden sind: Es reicht z.B. ein kritischer Blick in Richtung Trainer/Ausbildungsleiter. Das Tragen einer Mütze auf kahlem Kopf in einer 12°C kalten Halle genügt diesen Anforderungen auch. Und man darf vor allem auch nie fragen: Ist das Judo, was wir größtenteils auf den Matten haben, am Ende nicht auch nur eine ganz gewöhnliche Sportart, mit ein paar Eigenheiten wie bei anderen Sportarten auch? Die Judowerte eine Art Marketingmaßnahme? Ich muss kurz löschen, denn mein Judopass hat sich gerade selbst entzündet...
Ja ich weiß, die Aufstellung von Judowerten soll ein niedrigschwelliger Grundrahmen sein, nur ein Teil eines Konzeptes. Allerdings erscheint das für den postulierten Zweck, den Anspruch und die gewünschte Allgegenwärtigkeit eigentlich zu wenig ausgearbeitet, zumal die Realität den Anspruch allzu oft überholt und nicht selten auch Achselzucken hervorruft. Ich unterstelle auch, dass die meisten Leute sehr wohl rücksichtsvoll trainieren, aber: weil diese schon im Vorhinein und auch sonst entsprechend sozialisiert sind, nicht weil das mal irgendwie als "Mattenregel" aufgestellt wurde.
(...) mutiges Auswählen grundsätzlich schwächerer Trainingspartner, vorzugsweise junger Frauen ...
Ich muss gerade an den Ralf denken (und andere Buben) - doch ich weiß gar nicht warum .
Exakt das ging mir auch durch den Kopf. Allerdings weiß ich warum, da mit eigenen Augen und so...ich kenne/sah/beobachtete aber noch viel mehr Beispiele.
Ich unterstelle auch, dass die meisten Leute sehr wohl rücksichtsvoll trainieren, aber: weil diese schon im Vorhinein und auch sonst entsprechend sozialisiert sind, nicht weil das mal irgendwie als "Mattenregel" aufgestellt wurde.
Vielen Dank 'nur_wazaari',
Du konntest das Dilemma prägnant skizzieren.
Der praktizierte Judosport kann eine nicht vorhandene Sozialisation nicht herbeiführen, bzw. korrigieren und eine neue Ethik etablieren.
Es handelt sich bei den 'Gesetzestexten' nur um einen Teilausdruck des allgemeinen Marketings. Das Elternhaus muss leider die Basis legen, sagen wir in den ersten Lebensjahren, also bis zur 'Schulreife' ...
Als Option kann man sein Neugeborenes auch einfach in die Obhut von Fachkräften geben, ein Smartphone kaufen (wegen der Digitalisierung, also rechtzeitig ...) ... usw.
Welche Zielgruppe soll die Liste der 'Judowerte des DJB' ansprechen? Kinder und ganz junge ÜL. Die Hartgesottenen pellen sich ein Ei darauf.
'Judo' kann einen positiven Beitrag an der Entwicklung eines Menschen in unserer Gesellschaft leisten.
'Judo' trägt also dazu bei. Wie tausend andere Interessen ebenfalls. Was unterscheidet unseren Auftrag und unsere Arbeitsweise von der des ortsansässigen Fußballclubs? Wo liegt unsere Kernkompetenz und wie heißt sie?
Das „wie“ abseits der Matte finde ich auch sehr interessant. Da trennt sich dann wieder (wie immer) die Spreu vom Weizen… Wo beginnt Judo und wo hört es auf?! Hört es überhaupt irgendwo auf???
Was sagt die Graduierung über das Verständnis der Werte / Kanos Philisophie?
Anderseits muss man die Frage stellen, ob es überhaupt genügend deutsch- bzw. englischsprachige Literatur über Kanos Philosophie gibt, damit sie dem westlichen Durchschnitts-Judoka (technisches Können entspricht nicht dem philosophischen Interesse), zugänglich ist?!
Wenn nicht - und diese Meinung vertrete ich -, warum nicht???