Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Ju-no-Kata, Go-no-Kata, Seiryoku-Zen'yo Kokumin-Taiiku-no-Kata
caesar
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Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von caesar »

Der Kodokan hat das Referenzvideo zur Seiryoku-Zenyo-Kokumin-Taiiku auf seinem Youtubekanal veröffentlicht

Cichorei Kano
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Cichorei Kano »

Ich hatte das Glück, sei-ryoku zen'yô kokumin taiiku (SZKT) von dem verstorbenen Fukuda Keiko zu lernen. Das war ausgezeichnet, da sie noch tief in der Tradition verwurzelt war, und das zu einer Zeit, als Kanô selbst diese Übung propagierte. Es ist heute schwer, den Menschen zu erklären, dass die SZKT eines der wichtigsten Dinge im Kôdôkan jûdô ist. So viele Menschen in jûdô haben den Wunsch, miteinander zu konkurrieren, das Bedürfnis, zu zeigen, dass sie besser sind als andere, während doch die Vernichtung des Egos eines der wichtigsten Ziele von jûdô ist. Die SZKT ist ein wesentlicher Teil der körperlichen Pädagogik des jûdô und schwer in einem Wettstreit zu nutzen oder zu missbrauchen. Sie ist relativ nutzlos, wenn man nur zeigen will, dass man besser ist als jemand anders, weshalb sie nicht populär ist.

Ich glaube, es war wahrscheinlich 2009 oder so ähnlich, als ich mit Umezu Katsuko an Joshi jûdô goshinhô gearbeitet habe. Sie freute sich immer über mein Interesse, da es ihr Wunsch war, dass diese Übungen nicht verloren gingen, da ihre eigenen Assistentinnen oder andere weibliche jûdôka wenig Interesse daran hatten, diese Übungen zu lernen oder ihre Fähigkeiten zu perfektionieren. Seit Ende der 1970er Jahre wurden auch die weiblichen Jûdôka mehr und mehr zum Wettbewerb gedrängt. Und auch die wenigen, die im Kata-Wettbewerb aktiv sind, haben wenig Interesse, da sie mit diesen Übungen keine Medaillen gewinnen können, die nicht in den Kreislauf des IJF-Sportkata-Wettbewerbs eingebunden sind.

Damals teilte mir Umezu-sensei mit, es sei geplant, die Serie der Kodokan-Kata-Videos und -DVDs um eines über Sei-ryoku zen'yô kokumin taiiku zu erweitern. Es muss ein ziemlich schwieriges Projekt gewesen sein, es abzuschließen. Ich warte schon seit Jahren auf seinen Abschluss. Ich nehme an, dass Umezu sich vielleicht mit zunehmendem Alter nicht mehr in der Lage fühlte, es selbst auf Video aufzuführen, obwohl sie es immer noch jedes Jahr für die Dôyûkai-Freundschaftsorganisation unterrichtet.

Während der Kagami-Biraki-Zeremonie 2013 tauchte die SZKT plötzlich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder als eine der gezeigten Kata auf, und zwar von denselben Interpreten wie in dem neuen Video. Ich gehe davon aus, dass dieses Video irgendwo zu dieser Zeit aufgenommen wurde. Die Bilder scheinen mir nicht sehr aktuell zu sein, was nicht allzu überraschend ist, denn Schnitt, Produktion und Nachbearbeitung von Videos, die kommerziell veröffentlicht werden sollen, brauchen Zeit, wenn man es richtig machen will.

Auf jeden Fall ist es eine willkommene Ergänzung. Eines der Probleme der Kagami-Biraki-Zeremonie 2013 SZKT bestand darin, dass die Solo-Übung (tandôku renshû) natürlich mit Tori mit dem Gesicht zu den Shômen durchgeführt wurde, was bedeutet, dass die Aufnahmen nur Tori von ihrem Rücken zeigen, da während der Kagami-Biraki-Zeremonie nur die Kanchô (und schließlich seine Frau) dort positioniert werden dürfen. Das Ergebnis dieser Aufnahme, die nur von hinten aufgenommen wurde, war ziemlich frustrierend. Das "neue" Video hat dieses Problem glücklicherweise nicht.

Für diejenigen, die die Darsteller nicht kennen oder kein Japanisch lesen können, sind dies Amano Akiko, weiblicher 6. Dan (tori) & Haibara Mami, 4. Dan (uke) für die Übung zu zweit, während Haibara auch die Solo-Übungen durchführt. Der Name des Erzählers in japanischer Sprache ist Takahashi Mikiko, aber ich gehe davon aus, dass dies niemandem etwas sagen wird.

Vielleicht finden Sie es interessant, dass Sei-ryoku zen'yô kokumin taiiku eine der 6 Kata war, die ich während meiner letzten Dan-Rangbeförderungsprüfung gezeigt habe. Nun, ich persönlich finde es in gewisser Weise lustig, dass ich nicht allzu viele Leute treffe, die die SZKT jemals als eine der Kata während ihrer Dan-Rang-Beförderungsprüfung gezeigt haben.

Es ist vielleicht eine Ironie des Schicksals, dass jetzt in einer Zeit von COVID-19 und sozialer Distanzierung dieses Video mit (teilweise) Solo-Übungen veröffentlicht wird. Ich bezweifle, dass dies zeitlich geplant war. Die Tatsache, dass es frei verfügbar ist, ist sicherlich nett, obwohl ich persönlich es vorgezogen hätte, wenn es in einer höheren Auflösung als die mickrigen 640 X 360 Pixel verfügbar gewesen wäre ...
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von tutor! »

In den letzten Jahren beobachtete ich durchaus ein gesteigertes, wenngleich schüchternes, Interesse an Seiryoku-zenyo-kokumin-taiiku-no-kata. Die älteren Damen am Kodokan vermitteln sie auch an einzelne Interessenten, von einer regelmäßigen Vermittlung kann aber keine Rede sein.

Ich habe immer etwas gemischte Gefühle, wenn seltene Kata aufgegriffen und wiederbelebt werden. Positive finde ich das persönliche Interesse, sich mit bislang Unbekanntem auseinderzusetzen, auch ist die Bereitschaft, dies weiterzugeben eine wichtige und positive Sache. Unangenehm wird es jedoch, wenn diese vermeintlich exklusiven Kenntnisse benutzt werden, sich in verschiedenen Rollen zu exponieren.

SZKT als konkreten Übungsinhalt muss ich noch ein wenig im wörtlichen Sinn auf mich wirken lassen (mit anderen Worten: ich praktiziere sie in dieser Krisenzeit und ich muss nach abwarten, welche Wirkungen das Üben auf meinen Körper hat). Ihren Stellenwert in Kanos Konzept des Kodokan Judo kann man jedoch nicht negieren. Diese Gedanken aufzugreifen, angemessen auf die heutige Zeit hin zu interpretieren, wäre sehr lohnenswert.
I founded a new system for physical culture and mental training as well as for winning contests. I called this "Kodokan Judo",(J. Kano 1898)
Techniques are only the words of the language judo (Cichorei Kano, 24.12.2008)
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Julian »

Hallo Cichorei Kano

Danke für deine Ausführungen zu dieser Kata.
Meine Frage mag etwas naiv klingen, aber: Könntest du ein wenig darlegen, welchen Zweck die SZKT nach deinen Erkenntnissen im Rahmen des Judo einmal haben sollte?

Vielen Dank!
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Fritz
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Fritz »

Julian hat geschrieben:
13.05.2020, 07:28
Meine Frage mag etwas naiv klingen, aber: Könntest du ein wenig darlegen, welchen Zweck die SZKT nach deinen Erkenntnissen im Rahmen des Judo einmal haben sollte?
Bis CK antwortet, kannst Du in der Niehaus-Dissertation (oder war es ihn "Mind Over Muscle" ?) nachlesen, in den Kapiteln rund um arbeitsimitierenden Gymnastik.
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Julian »

Fritz hat geschrieben:
13.05.2020, 10:45
Bis CK antwortet, kannst Du in der Niehaus-Dissertation (oder war es ihn "Mind Over Muscle" ?) nachlesen, in den Kapiteln rund um arbeitsimitierenden Gymnastik.
Werde ich tun, kann ich aber erst am Wochenende! (Buch ist woanders als ich es bin...)
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Cichorei Kano »

Julian hat geschrieben:
13.05.2020, 07:28
Hallo Cichorei Kano

Danke für deine Ausführungen zu dieser Kata.
Meine Frage mag etwas naiv klingen, aber: Könntest du ein wenig darlegen, welchen Zweck die SZKT nach deinen Erkenntnissen im Rahmen des Judo einmal haben sollte?

Vielen Dank!
Sie stellen eine der wichtigsten Fragen, die nicht nur für die SZKT, sondern für alle Kata gilt. Ich habe in meinem vorherigen Beitrag versucht, ein kleines bisschen darüber zu erzählen, aber nicht zu viel. Es gibt tatsächlich eine Arbeit über die SZKT, die von mir und Prof. Niehaus in Vorbereitung ist, und zwar schon seit mehreren Jahren. Es wäre unsinnig, seinen Inhalt hier zu wiederholen, bevor er veröffentlicht wird. Weil ich zu viel Arbeit mit anderen Dingen habe, verzögert sich das Papier.

Ein wichtiger Punkt ist jedoch, dass ein sehr großer Teil des jûdô, wie von Kanô beabsichtigt, von der großen Mehrheit der jûdô-Praktizierenden weitgehend und vielleicht sogar völlig missverstanden wird. Wenn man die Leute fragt, worum es ihrer Meinung nach beim Judo geht, werden sie gewöhnlich "ein Sport" oder "Selbstverteidigung" sagen, aber dem ist nicht so. Versuchen Sie nun, die Leute davon zu überzeugen, dass die SZKT eines der wichtigsten Dinge im Judo ist, und die Leute werden verblüfft sein. Und doch ist es so.

Kôdôkan jûdô, wie es von Kanô entwickelt wurde, war als ein pädagogisches System mit einem dreifachen Zweck gedacht: moralische Erziehung, Leibeserziehung, und Kampfkunsterziehung. Später wurde ein vierter Aspekt hinzugefügt, der hier nicht sehr relevant ist.Diese 3 Teile waren jedoch keine endgültigen Ziele. Bei der Entwicklung dieser drei Bereiche waren die beiden Prinzipien (sei-ryoku zen'yô kokumin taiiku und jita-kyô-ei) zentral, und das Endziel war die intellektuelle Entwicklung. Dies ist wichtig, um einen Teil der Diskrepanz zwischen dem, was die Mehrheit der jûdôka denkt, und dem Ziel von Kanô zu erkennen und zu erklären, denn niemand nimmt heute jûdô auf, weil er sich weiterbilden oder seine intellektuellen Fähigkeiten entwickeln will. In gewissem Maße ist dies vernünftig, denn in der heutigen Zeit haben wir ein anständiges Schulsystem mit einer Schulpflicht für Kinder bis 16 oder 18 Jahre, je nach Land. Angesichts der modernen, anständigen Bildung des 21. Jahrhunderts ist es also verständlich, dass der Jûdô als Gesamtbildungsform den meisten Praktikern nicht wirklich am Herzen liegt. Das ändert jedoch nichts daran, wie jûdô von Kanô beabsichtigt war.

Kanô interessierte sich anfangs und in einem frühen Stadium für eine Ausbildung des Körpers mit dem Ziel, eine stärkere Widerstandskraft gegen Krankheiten zu entwickeln. Vergessen wir nicht, dass Antibiotika noch nicht erfunden waren. Was die Erziehung betrifft, so reflektierte er über die Form, in der es den Sportunterricht gab. Die Übungen, die die Menschen machten, waren im Grunde genommen skandinavische Gymnastik. Diese Übungen erfüllten ihren Zweck. Sie "erzogen" die Menschen körperlich. Aber abgesehen davon hatten sie keinen Zweck. Stellen Sie sich vor, auf und ab zu springen und die Arme in die Luft zu werfen. Es ist eine Übung, es trainiert Sie körperlich, aber Sie können nichts anderes tun damit, als auf und ab zu springen und Ihre Arme in die Luft zu werfen. Das ist nichts, was Sie im Alltag anwenden können. Daher kam er mit seinem spezifischen Hintergrund und unter Berücksichtigung des Zeitrahmens auf die Idee: Stellen Sie sich vor, wir würden verschiedene Übungen schaffen, Übungen, die dasselbe tun und die Menschen auch körperlich erziehen würden, ABER Bewegungen, die gleichzeitig auch einen gewissen Nutzen im täglichen Leben haben würden. Deshalb wollte er einen Sportunterricht machen, der Bewegungen aus den alten japanischen Kampfkünsten verwendet. Eine solche Art von Leibeserziehung war für den Sportunterricht in der Schule nützlich, aber gleichzeitig wären seine Bewegungen nützlich, da man sie zur Selbstverteidigung einsetzen könnte. In diesem Rahmen muss man die Wurzeln des Kôdôkan jûdô verstehen. Die Idee war so wichtig, dass Kanô einen großen Teil seines Lebens in die Entwicklung der SZKT investierte. Kanô hatte viele Projekte in jûdô, die er nie zu Ende geführt hat, wie zum Beispiel die Entwicklung einer Art Randori, die Atemi und Fernkampf beinhaltete. Er starb, bevor er die meisten davon beenden konnte, aber er beendete die SZKT. Kanô betrachtete die SZKT als sein Opus magnum. Er wäre am Boden zerstört, wenn er heute erkennen würde, dass genau diese wichtige Übung das ist, was heute niemanden mehr interessiert. Natürlich gibt es objektive Gründe, die zum Teil ihre Bedeutung heute in Frage stellen, wie zum Beispiel: Warum SZKT praktizieren, wenn man mit den Geräten in einem modernen Fitnesscenter viel effektiver Sport treiben könnte ? Stimmt, aber man 'könnte' SZKT auf einem Bahnsteig üben, während man nachts um 23 Uhr auf einem Bahnhof auf einen Zug wartet, während man keine Fitnessgeräte dabei hat. Im heutigen Klima könnten Sie von der Polizei verhaftet werden, vielleicht wegen verdächtiger Aktivitäten, aber darum geht es nicht. Wie auch immer, bevor Sie anfangen, die SZKT zu kritisieren, bedenken Sie bitte, dass sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine pädagogische Übung gedacht war, so viele der Möglichkeiten, die wir heute haben, gab es einfach nicht.

Zweitens ist die Rolle der SZKT als ernsthaftes Atemi-Training ein weiterer Aspekt, der heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Nagaoke hat ihn jedoch sehr schön detailliert, als er die korrekte Praxis der Kime-No-Kata diskutierte und wie dies mit der SZKT verknüpft werden sollte. Dies unterscheidet sich eindeutig VOLLSTÄNDIG von der heutigen Praxis der Selbstverteidigung im jûdô und hat weitgehend mit den Missverständnissen zu tun, die sich auf die Kata im Kôdôkan jûdô beziehen, insbesondere auf die Selbstverteidigungskata. Das Problem wird in einem demnächst erscheinenden Papier über Kôdôkan goshinjutsu diskutiert.

Die Probleme mit der Kata sind verständlich. Kanô hat 4 wesentliche Wege entwickelt, um Jûdô zu lernen und zu lehren: Vorträge, Diskussionen, Randori und Kata. Allerdings wurde Jûdô im Westen nie auf diese Weise eingeführt, und niemand im Westen lernte oder studierte Jûdô auf diesem 4-Wege-Pfad. Jûdô wurde nur durch einen einzigen Aspekt eingeführt, nämlich durch Randori, aber wirklich nicht einmal Randori, sondern als Shiai; d.h. Shiai als öffentliche Zurschaustellung gegen Praktizierende westlicher Kampfkünste wie Boxen, Ringen, Fangen ...

Wenn Sie sich zum Beispiel Yannicks interessante Forschung über die Entwicklung des Jûdô in Deutschland ansehen, was sehen Sie ? Jûdôka kämpfen und kämpfen, sie lesen nicht, sie besuchen keine Vorlesungen, sie haben nicht versucht zu begreifen, was die Kata zu vermitteln versuchte, sie waren einfach nur am Kämpfen interessiert, und natürlich am Gewinnen. Das ist es auch, was ich in meinem ersten Beitrag in diesem Thread über das 'Ego' meinte. Es geht um das Ego, wenn man gewinnen will. Es ist nicht "falsch" oder "böse", es ist normal, zumindest in einer bestimmten Phase unseres Lebens. Kanô war nicht gegen "konkurrieren" und "gewinnen wollen" und konzentrierte sich daher auf sich selbst. Kanô war der Meinung, dass in bestimmten Phasen unseres Lebens der Wettbewerb und der Wunsch zu gewinnen ein wichtiger Motivationsfaktor ist. Denn wenn man als Kind oder Jugendlicher nicht am Wettbewerb interessiert ist, fehlt einem vielleicht der Wunsch, sich voll und ganz zu entwickeln, und die Motivation, die eigenen Grenzen zu überschreiten. Ab einem bestimmten Punkt im Leben sollte dies jedoch nicht mehr im Mittelpunkt stehen, und wir sollten uns stattdessen auf andere Dinge konzentrieren, wie z.B. zu einer besseren Welt beizutragen und anderen zu helfen, indem wir ein besserer Mensch sind, mit anderen Worten: selbstloses Handeln.

Die Menschen im Westen interessierten sich also für Jûdô wegen der Tricks von Jûdô, der Selbstverteidigungstricks, und nicht, weil sie Frieden verbreiten oder bessere Menschen werden wollten. Kämpfen und Siegen wollen war das Einzige, was im Westen gelehrt wurde. Das Jûdô, das gelehrt wurde, unterschied sich oft von dem, was wir heute als Jûdô kennen, und war oft eine Mischung aus Jûjutsu der Meiji-Zeit, das in Goshinjutsu des frühen 20.

Die japanischen "Experten" im Westen waren nur deshalb Experten, weil sie viel erfahrener waren als die westlichen Länder. In Wirklichkeit hatten sie jedoch keine Jûdô-Ausbildung, die es in Japan noch nicht einmal lange gab. Der Kreis der anderen Jûdô-Pädagogen um Kanô (z.B. Munekata, Sakuraba usw.) blieb in der Regel in Japan. Die japanischen "Meister", die in den Westen kamen, lehrten also das einzige, was sie kannten, nämlich Randori und Shiai. Sie hielten keine Vorträge, es gab kaum Diskussionen wegen mangelnder westlicher Sprachkenntnisse und aus anderen Gründen, und es gab keine Kata.

Die Kata im Westen wurde wirklich zum ersten Mal beobachtet, wenn es hier oder dort während einer Demonstration mehr als einen japanischen Jûdôka gab und sie einige fortgeschrittenere Jûdô zeigten. Auf diese Weise betonten sie ihre Fähigkeiten als Meister im Vergleich zu den Westlern, die lediglich als Anfänger betrachtet wurden. Auf diese Weise wurde die Kata sofort als ein Demonstrationsgegenstand eingeführt, der nie als das vorgestellt wurde, wofür er gedacht war: eine Übungsübung (genau wie Randori).

Zweitens wurden die Westler selbst erst mit dem Teil "Kata" konfrontiert, als sie sich so weit entwickelt hatten, dass sie in Erwägung zogen, die ersten Schwarzgurte des Westens zu werden. Schwarzgürtel wurden als "Meister" betrachtet, so viel war klar, aber was genau einen Schwarzgurt von einem Kyû-Halter unterschied, war unklar. Japanische Meister, die Westler zu Schwarzgurten graduieren sollten, mussten ihre Anforderungen definieren. Zu diesen Anforderungen gehörten in der Regel eine bestimmte Trainingsdauer, die Fähigkeit, andere Kyû-Ränge in einem Kampf zu besiegen (dies war eine vereinfachte Anwendung des japanischen Tsukinami-shiai-, das Wurf- und Kontrolltechniken zeigte, und etwas Neues, das sie auswendig lernen mussten, nämlich die Kata.

Sie mussten also Kata lernen, vor allem und gerade für ihren Aufstieg. Was ist nun eine Prüfung im jûdô ? Es ist keine Übung, sondern im Wesentlichen eine "Demonstration" vor einem Lehrer oder Experten. Auf diese Weise wurde die Kata im Westen wieder ausschließlich als Demonstration und nicht als Übungsinstrument bekannt. Im Westen jedoch wurde während der Prüfung auch Randori "demonstriert", wobei Randori im Gegensatz zu Kata Teil des Standardtrainings für alle Kyû-Ränge wurden, so dass Randori nie mit dem Problem konfrontiert wurde, vor dem die Kata standen. Das war ganz anders als in Japan, wo es keine Kata-Anforderungen für die anfänglichen Schwarzgurte gab, die auf der Grundlage von Wettkampffähigkeiten erreicht wurden, so dass Randori im Grunde genommen als Shiai in die Praxis umgesetzt wurden.

Die Verwirrung um den Begriff Kata existierte also im japanischen Jûdô damals nicht.

Der Westen hat sich nie von der Idee lösen können, dass die Kata etwas ist, das man "demonstrieren" muss, während einem jemand zuschaut. Nichts in dem, was Kanô schreibt, wenn er die Bedeutung von Randori und Kata für das Erlernen von Jûdô definiert, spricht von "Demonstration". Er spricht von "Übung" und Training, d.h. von "renshû und "keiko", nicht von "enbu".

Natürlich gab es auch Demonstrationen. Wenn die Menschen nicht wussten, was jûdô ist, und jûdô vermarktet werden musste, wurden die Menschen durch jûdôka, die ihre Kunst "demonstrierten", daran herangeführt. Ich glaube, das ist gar nicht so schwer zu verstehen. Wenn Boeing oder Airbus ein neues Flugzeug bauen, "demonstrieren" sie dieses Flugzeug auch in Videoclips, die sie vermarkten, und während der Flugvorführungen. Das 'Vorführen' ist jedoch kaum der Zweck von Passagierflugzeugen. Ihr Zweck ist es, Passagiere von einem Punkt dieses Globus zu einem anderen zu "befördern". Sie sind "praktische Werkzeuge". Sowohl "Randori" als auch "Kata" waren von Kanô auch als "praktische Werkzeuge" gedacht.

Die "Demonstrationen" von jûdô zu Kanôs Lebzeiten waren jedoch keine Demonstrationen in dem Sinne, wie sie heute von den Menschen "demonstriert" werden, d.h. dass angeblich jemand Ihre Demonstration in Bezug auf Fehler oder Punktzahlen qualifizieren muss.

Jûdô-Demonstrationen, d.h. Demonstrationen von allem, auch Randori, wurden erst mit der Eröffnung des neuen Shimotomisaka Kôdôkan und der Durchführung der jährlichen Kagami-Biraki-Zeremonien regelmäßig. Da jeder jûdôka ständig Randori veranstaltete, würde kein einziger vernünftig denkender Mensch Randori als bloße Demonstrationen betrachten, obwohl es während der Kagami-Biraki-Zeremonie genau das war. Das Gegenteil war jedoch bei den Kata der Fall, vor allem bei den fortgeschritteneren Kata oder bei den Kata, die fortgeschrittene Fähigkeiten enthielten, die man für grundlegende Shiai nicht brauchte oder nicht beherrschte.

Diese Verbindung mit dem Kagami-Biraki hat zu allerlei Verwirrung beigetragen, und deshalb findet man in vielen Jûdô-Büchern in westlicher Sprache Falschaussagen wie etwa, dass die Kata angeblich eine "Zeremonie" sei. Die Kata ist keine Zeremonie, die Kata wurde nur jedes Jahr (genau wie die Randori) während des Kagami-biraki demonstriert, das eine Zeremonie ist, weshalb ihr voller Name "Kagami-biraki SHIKI" lautet.

Das Ausmaß dieses Missverständnisses in der Jûdô-Geschichte ist erheblich. Selbst ein so belesener Mann wie Trevor P. Leggett veröffentlichte seine Bücher über nage-, katame und jû-no-kata unter einem Titel, der mit den Worten "Die Demonstration von ..." begann. Praktisch alle westlichen Sprachen verwenden im Vergleich zu Randori unterschiedliche Verben, wenn sie sich auf Kata beziehen. Jûdôka 'TUN' randori, aber sie "ZEIGEN" oder "DEMONSTRATIEREN" Kata, außer vielleicht während Kyû- oder Dan-Rang-Prüfungen, die vielleicht das einzige Mal sind, dass hier jemand "DEMONSTRATIEREN" oder "ZEIGEN" randori sagt. Ansonsten ist niemand sehr darauf bedacht, Randori einfach nur zu "demonstrieren" ... und wahrscheinlich wird der eigene Testosteronspiegel die meisten Leute bei der Durchführung dieser Übung leiten.

Diese Probleme sind nicht ausschließlich jûdô. In vielen Karate-Stilen sind die Kata zu nichts anderem als theatralischen Demonstrationen geworden, und Streitigkeiten über die Rolle der Kata waren einer der Gründe für die Spaltungen. Ein Beispiel dafür ist ein Streit zwischen Funakoshi Gichin und Ôtsuka Hironori, der zur Entstehung des Wadô-ryû im Gegensatz zum Shôtôkan-Karate führte.

In einigen koryû sehen wir die gleiche Entwicklung. Mit einer neuen Kunst in Japan, nämlich dem "Bugaku", geht sie jetzt sogar noch einen Schritt weiter. Man muss vorsichtig sein, da es zwei identische Wörter gibt, wenn sie in westlicher Rechtschreibung geschrieben werden. Allerdings ist Bugaku (舞楽) nicht das Gleiche wie Bugaku (武道). Manchmal wird auch der Ausdruck "bu no bi" verwendet. Es ist eine theatralische Darstellung von Budô. Er bläht vermeintliche ästhetische Eigenschaften des Budô auf, die es nie gegeben hat, um etwas Theatertaugliches zu schaffen. Sie übersetzen "bugaku" manchmal als "Samurai-Kunst". Hier ist eine Website dazu: http://www.bugaku.com/e/about/enja.html

Und hier ist ein Videoclip, der sogar in Deutschland gefilmt wurde: http://www.youtube.com/watch?v=Sezh6IKzEWk

Sie bedienen sich einer oberflächlichen Ästhetik, einer Pseudo-Ästhetik. Echte japanische Ästhetik ist kompliziert, erfordert intellektuelle Investitionen. Die Pseudo-Ästhetik ist leicht zu erfassen und erfordert keine Anstrengung, sondern ist das Ergebnis einer historischen Neuerfindung. Sie haben nie existiert.

Man kann sie cool finden, man kann sie mögen, daran ist nichts falsch. Allerdings ist es nicht real. Es ist eine historische Neuerfindung. Die Samurai haben das in Japan nicht getan, während im Hintergrund Mozarts Requiem gespielt wurde. ES HAT NIE EXISTIERT ! In ähnlicher Weise haben sich die Kata in jûdô weitgehend zu einer theatralischen Darbietung entwickelt, mit allen möglichen Kuriositäten, die es nie gegeben hat. Natürlich kann man das "genießen". Manche Menschen finden auch Freude am Videospiel, auch wenn es nicht real ist. Auf Youtube gibt es Dutzende von Videoclips auf Flugreisen, in denen nur gefälschte Flug- und Softwareprogramme von Leuten verwendet werden, die noch nie im Cockpit eines echten Flugzeugs saßen. Heute gibt es virtuelle Wettkämpfe in verschiedenen Sportarten als Folge der Langeweile mit den Covid-19-Maßnahmen. Die verrücktesten Dinge entwickeln sich und können entwickelt werden.

Vor mehr als 20 Jahren hatte ich eine heftige Diskussion mit einer Frau, die behauptete, sie sei in einem Kartenraum ["chatroom"] vergewaltigt worden. Sie bestand darauf, dass es sich dabei um die gleiche Vergewaltigung handelte wie bei einer echten Vergewaltigung, obwohl es keinen physischen Kontakt gab, der Chat-Raum virtuell war, die Leute falsche Namen benutzten und alles, was geschah, größtenteils nur in ihren Köpfen geschah. Sie war der Meinung, dass die "Vergewaltiger" ins Gefängnis gehen müssten und dass sie für die "Vergewaltigung" Geld verdiene, während niemand sie jemals getroffen oder gesehen habe und sie einfach irgendwo hinter einem Computer saß und tippte. Es gibt heute Menschen, die im Grunde genommen in Online-Spielen "leben".

Randori Shiai ist weniger anfällig für historische Neuerfindungen, da man vielleicht von vornherein davon ausgeht, dass sie sich je nachdem, wie sich die Wettbewerbsregeln entwickeln, "weiterentwickeln". Techniken, die von früheren Techniken abgeleitet sind, stellen neue Umsätze kein Problem dar, da sie zur Erreichung des wichtigsten Ziels beitragen. Khabareilli, Laats, Yarden Gerbi benutzten alle Techniken, die sie angeblich erfunden hatten (sie haben sie nicht erfunden, sie existierten, waren aber so selten geworden, dass kein durchschnittlicher Jûdôka sie noch kannte), und das trug zu ihren Erfolgen bei. Laats "Kata-Guruma" oder "Yoko-otoshi" war in Wirklichkeit eine Form von Tama-Guruma, die von Mifune ein halbes Jahrhundert zuvor regelmäßig vorgeführt wurde. Und Gerbens "neu erfundene" Verwürgung existierte schon seit Ewigkeiten unter dem Namen suso-jime.

Das ist nicht ist nicht das, was Neuerfindung ist. Die Techniken existierten, es ist nur die Unwissenheit und das fehlende Jûdô-Wissen der Menschen, das sie dazu bringt, sich in die Geschichte einzukaufen, dass etwas Neues präsentiert wird.

In Japan war diese Verwechslung mit dem Zweck der Kata weitaus geringer, zumindest solange Kanô lebte. Doch nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg und den Bemühungen des Kôdôkan, jûdô wieder aufzunehmen UND endlich seinen wichtigsten und prestigeträchtigsten Wettkampf, nämlich den Butokukai, zu beenden, behauptete der Kôdôkan, jûdô habe nichts mit Kampfkunst zu tun, sondern sei lediglich ein "Sport". Ich vereinfache das ein wenig, aber darauf ist es hinausgelaufen. Auf diese Weise führte der Kôdôkan den amerikanischen Besatzer in die Irre, obwohl in Wirklichkeit viele Jûdôka über diese Tricks lachen und mit den gleichen Zielen wie zuvor weiter trainieren würden.

Dennoch wurden mit der Zeit diejenigen, die während Kanôs Leben geboren wurden und Jûdô gelernt und praktiziert hatten, immer weniger. Die Internationalisierung des Jûdô mit der Schaffung und Betonung von Wettkämpfen und Meisterschaften im Westen verwandelte Jûdô effektiv in das, was heute von den meisten Menschen als Sport verstanden wird.

Wenn Jûdô als Sportart betrachtet wird, sind die einzigen Aspekte, die wirklich zählen, Randori, körperliche Verfassung, Kraft, Schnelligkeit, Explosivkraft und Ausdauer. Die drei Hauptinstrumente zum Erlernen von Jûdô außer Randori, d.h.: Vorträge, Diskussionen und Kata, fanden darin keinen Platz.

In reality, the problems are described are even more complicated, as kata, and also SZKT, have also been affected by the another historic reinvention, i.e. "pseudo-standardization" and by the increasing role of the Kôdôkan's women's department since the late 1970s, which has particularly affected the perception of jû-no-kata, but which has also caused a flow-over of certain other elements, such as men suddenly doing things in kata which were exclusive to women leading to all kinds of oddities, which they usually do not realize. The reverse happened too, and few women today make seated bows with their knees closed. However, SZKT is perhaps one of the most gender-neutral exercises.

Ich hoffe, dass meine Erklärung zumindest dazu beitragen wird, dass keiner von Ihnen anfängt zu denken, wie es so viele vor Ihnen getan haben, nämlich dass die SZKT dazu bestimmt ist, dass Sie "DEMONSTRIEREN" und andere Sie währenddessen in völliger Bewunderung und Verehrung beobachten können. Auf diese Weise werden weder Sie noch Ihr geliebtes Publikum sich "körperlich erziehen". Wenn Sie sich also an eine Sache aus dem, was ich geschrieben habe, erinnern wollen ... Die SZKT ist eine TUN-Übung, sie ist Übung. Natürlich soll das Video Ihnen helfen zu verstehen, was Sie zum Üben brauchen. Weder das Video noch die SZKT selbst haben als Zweck, dass ich oder Gott weiß wer Sie jetzt beurteilen sollte. Üben Sie, bewegen Sie sich, bleiben Sie gesund, und Sie werden das von Kanô beabsichtigte Ziel viel eher erreichen als die Frage, ob Sie alles Gezeigte exakt nachahmen oder kopieren können, ohne einen einzigen Durchgang, eine einzige Position oder einen einzigen Winkel zu verändern. Viel Erfolg!

Entschuldigung, ich bin jetzt erschöpft. Es ist sehr anspruchsvoll für mich, eine solche Erklärung auf Deutsch zu schreiben. Ich entschuldige mich auch für die vielen Grammatikfehler, die mir zweifellos unterlaufen sind.
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Fritz
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Fritz »

Cichorei Kano hat geschrieben:
14.05.2020, 04:54
Entschuldigung, ich bin jetzt erschöpft. Es ist sehr anspruchsvoll für mich, eine solche Erklärung auf Deutsch zu schreiben. Ich entschuldige mich auch für die vielen Grammatikfehler, die mir zweifellos unterlaufen sind.
Vielen Dank für den sehr erhellenden Beitrag.
Er ist sehr gut verständlich auch grammatikalisch.
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von HBt. »

Vielen Dank für Deine klaren Worte CK. Damit hast Du meine eh schon offenen Türen eingerannt ...

Vor ein paar Tagen habe ich mit einem Kollegen eine bestimmte Form, bzw. Sequenz des Taijiquan geübt - und sofort gab es eine Stimme aus dem Publikum: "Damit kann man aber nicht kämpfen."

Dieser Meister erklärte sich auch so gleich' und berichtete: er habe drei Jahre Erfahrung im Judo, wobei er plötzlich ein Qigong und einen Lowkick (aus dem Hut zauberte) demonstrierte. Seine Euphorie war nicht mehr zu bremsen und er forderte meinen Kumpel dazu auf, sein Handgelenk zu greifen ...

Daraufhin sagten wir uniso JA - und beendeten die Übungsstunde (unserer Mittagspause), es hatte keinen Sinn mehr.

Grüße,
HBt.
Julian
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Julian »

Auch von mir ein herzliches Dankeschön - ich brauche etwas Zeit, um den Beitrag sorgfältig zu lesen!
luxuslurch
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von luxuslurch »

Ich habe die SZKT zum ersten Mal in dem Buch "Kodokan Judo" von Kano gesehen. Das war ein ganz schöner Krampf, aus den Bildern und Beschreibungen irgendwie halbwegs sinnvolle Bewegungen abzuleiten. Es gibt auch nur sehr, sehr wenige Videos zu dem Thema. Unterrichtet wird es ja sowieso in Deutschland nicht.

Nach den obigen Ausführungen (herzlichen Dank!) und dem neuen Video werde ich die wieder etwas ernsthafter verfolgen.
Michael Geiger
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Michael Geiger »

Erstmal vielen Dank an Cichorei Kano für die wie immer tollen Erläuterungen!
Ich habe die SZKT zum ersten Mal in dem Buch "Kodokan Judo" von Kano gesehen. Das war ein ganz schöner Krampf, aus den Bildern und Beschreibungen irgendwie halbwegs sinnvolle Bewegungen abzuleiten. Es gibt auch nur sehr, sehr wenige Videos zu dem Thema. Unterrichtet wird es ja sowieso in Deutschland nicht.
Jacques Cosson aus Ludwigsburg unterrichtet diese Kata, ich war dort vor zwei Jahren auf einem Lehrgang.
Julian
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Julian »

Danke nochmal für die lange und interessante Darstellung.
Es würden sich an vielen Stellen Gelegenheiten geben, an denen ich mir vorstellen könnte, nachzufragen. Aber das würde vermutlich etwas zu aufwändig werden. Ich versuche daher stattdessen, ein paar allgemeine Aspekte aus meiner Sichtweise aufzugreifen.
Den grundsätzlichen Entwicklungsgang des Judo hin zu einer (zu 99%) rein auf Wettkampf- und Breitensport Sport ausgerichteten Disziplin kann ich gut nachvollziehen. Ich denke sehr ähnliche Prozesse lassen sich bei anderen japanischen und chinesischen Disziplinen beobachten bzw. haben dort ebenfalls in genau dieser Weise stattgefunden. Wir haben in China wie in Japan um die Wende zum 20. Jh. eine Überlieferung von bewaffneten und waffenlosen Kampfweisen, welche aber hier wie dort eigentlich keinen Zweck mehr im Rahmen einer nationalen Verteidigung spielen. Ähnlich, wenn auch anders, litt China unter der Dominanz der westlichen Länder und versuchte zunächst, über die Kampfkünste die Volksgesundheit zu stärken und ein Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit aufzubauen (so wurden die Kampfkünste in China zu der Zeit ja auch als Guoshu, Landeskünste, bezeichnet). In praktischer Hinsicht, bezogen auf die einzelnen Überlieferungsstränge oder Schulen (Ryû) scheint mir ein wichtiger Unterschied, dass sich in China nie ein so strenger Formalismus in der Kampfkunst-Übung herausgebildet hat wie in den japanischen Traditionen (nicht nur in der Kampfkunst, sondern z. B. auch beim Tee). Aber ich glaube ich schweife ab; also versuche ich es etwas zuzuspitzen:
Ich würde sagen, die drei Ziele Charakterbildung (moralische Erziehung), Gesundheit (Leibeserziehung) und Kampfkunst schreiben sich viele Kampfkünste auf die Fahne. Mit Blick auf das Taijiquan werden diese ja auch gerne als die drei Säulen des Taijiquan bezeichnet. Weitgehend unstrittig eingelöst scheint mir allerdings nur der gesundheitliche Aspekt; natürlich sehr unterschiedlich, je nachdem wie geübt oder trainiert wird. Der moralische Aspekt führt schnell zu dem Problem, wie man diesen denn feststellen will; zudem scheint es genug fähige Kampfkünstler (und auch Judoka) gegeben zu haben, die jetzt nicht unbedingt moralische Vorbilder waren. Und beim Thema „Kampf“ haben wir eben schnell die Frage, wo und wie denn gekämpft wird, und wie die Kata oder (Taolu) (des Judo, Karate, Taijiquan) etc. da ihren Beitrag leisten...
Alles in allem ein ziemliches Kuddelmuddel.
tutor!
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von tutor! »

Julian hat geschrieben:
14.05.2020, 18:56
(...)Alles in allem ein ziemliches Kuddelmuddel.
... aber durchaus auflösbar. Dass Erziehung immer Dimensionen in den Bereichen Körper, Intellekt, Werte/Emotionen hat, ist jetzt keine spezifische Erfindung eines Kulturkreises. Ob Pestalozzi mit Kopf, Herz und Hand, H. Spencer mit "physical, intellectual, moral" oder fast jede andere Erziehungstheorie auch: immer wieder findet man mit mehr oder weniger anderen Begriffen und mehr oder weniger unterschiedlichen Schwerpunkten diese Kategorien. Es ist auch kein Zufall, dass Kano diese verwendet.

Es gibt verbreitet die naive Vorstellung, als wären bestimmte Inhalte automatisch in eine bestimmte Richtung erziehlich wirksam. Diese Fehler machte schon GutsMuths und in den folgenden 200 Jahren scheiterten viele Konzepte der Sportpädagogik (oder meinetwegen auch der Leibeserziehung). Erhellende Gedanken hierzu lassen sich bei Funke-Wieneke in einem vor über 20 Jahren gehaltenen Vortrag finden:

http://judo-praxis.de/Artikel/A_Paed_be ... utung.html

Erziehlich wirkt danach nicht die Sache an sich, sondern der Kontext, in den die Sache von erziehenden Menschen gestellt werden hat eine Wirkung auf den Menschen und und wirkt erziehlich. Leider machen viele Menschen den Fehler, die erziehende Wirkung der Sache zuzuschreiben und dabei Kausalitäten zu behaupten, die sich nicht nachweisen lassen.
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Julian »

tutor! hat geschrieben:
14.05.2020, 21:50
Julian hat geschrieben:
14.05.2020, 18:56
(...)Alles in allem ein ziemliches Kuddelmuddel.
... aber durchaus auflösbar.
Hmm, auflösbar bzw. aufgelöst scheint es mir damit nicht; zumindest nicht zufriedenstellend.
Judo-Praxis kann also erzieherisch wirken, und es kann einhergehend mit der Judo-Praxis auch Moral entwickelt werden. Aber eben nicht zwangsläufig. Während umgekehrt auch alle anderen Tätigkeiten erzieherisch-moralisch wirken können; aber eben auch nicht zwangsläufig. Das ist ja doch etwas mau, unterm Strich, oder?
Und das Problem Kämpfen-Kata ist ja auch noch offen.
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von tutor! »

Julian hat geschrieben:
15.05.2020, 06:57
tutor! hat geschrieben:
14.05.2020, 21:50
Julian hat geschrieben:
14.05.2020, 18:56
(...)Alles in allem ein ziemliches Kuddelmuddel.
... aber durchaus auflösbar.
(...)
Judo-Praxis kann also erzieherisch wirken, und es kann einhergehend mit der Judo-Praxis auch Moral entwickelt werden. Aber eben nicht zwangsläufig. Während umgekehrt auch alle anderen Tätigkeiten erzieherisch-moralisch wirken können; aber eben auch nicht zwangsläufig.
Sehr gut zusammengefast - genau darauf wollte ich hinaus!
Das ist ja doch etwas mau, unterm Strich, oder?
Du magst das vielleicht als mau oder als enttäuschend empfinden, aber es ist DIE zentrale Erkenntnis, wenn es um erziehliche Wirkung von Leibesübungen geht. Man kann mit unterschiedlichen Inhalten dieselben oder ähnliche Ziele erreichen - genauso wie man umgekehrt mit demselben Inhalt vollkommen gegensätzliche Ziele ansteuern und auch erreichen kann. Das ist deshalb eine so zentrale Erkenntnis, weil damit der Vergleich unterschiedlicher Systeme auf einer Inhaltsebene in der Bedeutung deutlich relativiert wird und man gleichzeitig bei der Beurteilung einer Praxis auf das Setting schauen muss. Und zwar sehr genau.

Das ist ja auch der Kern der Kritik von CK: Kata wurde als Konzept an vielen Stellen falsch verstanden und in einen Kontext gestellt, der nicht sachgerecht war/ist.
Und das Problem Kämpfen-Kata ist ja auch noch offen.
Das Problem ist ein künstliches und nur eines, wenn man es dazu machen will. Letztlich weist CK mit seiner (sehr pauschalisierten) historischen Sicht auch in diese Richtung.

Wenn Du ganz allgemein ein Bewegungsproblem (ich verwende den Begriff jetzt im Sinne einer höchstmöglichen Abstraktionsebene körperlich zu lösender Anforderungen) lassen sich zwei Grundformen unterscheiden:
  • Die Rahmenbedingungen (Situation im umfassenden Sinn) sind weitgehend konstant, was auch eine im Voraus festlegbare Lösung ermöglicht.
  • Die Rahmenbedingungen sind offen, sodass die Aufgabe darin besteht, permanent eine zur Situation passenden Lösung zu finden
Diese zwei Grundformen von Bewegungsanforderungen gibt es in sehr vielen Bereichen des täglichen Lebens, des Sports und natürlich auch in den Kampfkünsten.

Alle Übungsaktivitäten in den Kampfkünsten lassen sich in einem Kontinuum zwischen extrem geschlossen und extrem offen einordnen. Üben in geschlossenen Situationen, bei denen Situation und Lösung vorgegeben sind, nennen wir Kata, Übungen in offenen Situationen, bei denen die Situation und die Lösung frei sind, nennen wir Randori.

In allen Bereichen, in denen offene Situationen durch komplexe Bewegungen gelöst werden sollen, wird man die Komplexität der Situation in Lern- und Übungsprozess einschränken, um die biomechanische Präzision optimieren zu können - und man wird die Komplexität wieder erhöhen, um die Bewegungen wechselnden Bedingungen anpassen zu können. Üben heißt also - wenn das Ziel ist, Situationen flexibel lösen zu können, permanent zwischen Kata (im vorgenannten Sinn) und Randori zu pendeln.

Judo verfolgt aber auch nach den Ideen Kanos die Zielsetzung, eine ideale Form der Leibeserziehung zu sein. Randori (ganz allgmein als sich-üben in offenen Situationen) ist in seiner leiblichen Wirkung jedoch nicht per se ideal, weil es zu Einseitigkeiten der Belastung und Anpassung kommt. Daher muss hier - so Kano - eine Ergänzung durch geschlossene Übungsformen erfolgen: mit anderen Worten mit Kata.

Das Verhältnis Kata - Kämpfen ist also ein doppeltes: Kata als Teiler einer Übungsmethodik zur Entwicklung kämpferischer Fähigkeiten und Kata als Ausgleich körperlicher Ungleichmäßigkeiten beim Kämpfen.
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Julian »

tutor! hat geschrieben:
15.05.2020, 09:20

Du magst das vielleicht als mau oder als enttäuschend empfinden, aber es ist DIE zentrale Erkenntnis, wenn es um erziehliche Wirkung von Leibesübungen geht. Man kann mit unterschiedlichen Inhalten dieselben oder ähnliche Ziele erreichen - genauso wie man umgekehrt mit demselben Inhalt vollkommen gegensätzliche Ziele ansteuern und auch erreichen kann. Das ist deshalb eine so zentrale Erkenntnis, weil damit der Vergleich unterschiedlicher Systeme auf einer Inhaltsebene in der Bedeutung deutlich relativiert wird und man gleichzeitig bei der Beurteilung einer Praxis auf das Setting schauen muss. Und zwar sehr genau.

Das ist ja auch der Kern der Kritik von CK: Kata wurde als Konzept an vielen Stellen falsch verstanden und in einen Kontext gestellt, der nicht sachgerecht war/ist.
Hmm, als enttäuschend empfinde ich persönlich es nicht, weil das schon länger meine Sichtweise ist. Aber als mau insofern als ich es damit schwierig finde, z. B. Judo (oder andere Kampfkünste) als einen besonders geeigneten Weg zur charakterlichen Entwicklung zu propagieren, z. B. gegenüber anderen Sportarten. Und das war ja wohl schon Kano´s Absicht, und wird auch heute noch von Verbänden und einzelnen so kundgetan, oder nicht? Ist ein bisschen so, wie wenn die Kirche über das Ideal der Armut predigt :D
tutor! hat geschrieben:
15.05.2020, 09:20
Das Problem ist ein künstliches und nur eines, wenn man es dazu machen will. Letztlich weist CK mit seiner (sehr pauschalisierten) historischen Sicht auch in diese Richtung.

Wenn Du ganz allgemein ein Bewegungsproblem (ich verwende den Begriff jetzt im Sinne einer höchstmöglichen Abstraktionsebene körperlich zu lösender Anforderungen) lassen sich zwei Grundformen unterscheiden:
  • Die Rahmenbedingungen (Situation im umfassenden Sinn) sind weitgehend konstant, was auch eine im Voraus festlegbare Lösung ermöglicht.
  • Die Rahmenbedingungen sind offen, sodass die Aufgabe darin besteht, permanent eine zur Situation passenden Lösung zu finden
Diese zwei Grundformen von Bewegungsanforderungen gibt es in sehr vielen Bereichen des täglichen Lebens, des Sports und natürlich auch in den Kampfkünsten.

Alle Übungsaktivitäten in den Kampfkünsten lassen sich in einem Kontinuum zwischen extrem geschlossen und extrem offen einordnen. Üben in geschlossenen Situationen, bei denen Situation und Lösung vorgegeben sind, nennen wir Kata, Übungen in offenen Situationen, bei denen die Situation und die Lösung frei sind, nennen wir Randori.

In allen Bereichen, in denen offene Situationen durch komplexe Bewegungen gelöst werden sollen, wird man die Komplexität der Situation in Lern- und Übungsprozess einschränken, um die biomechanische Präzision optimieren zu können - und man wird die Komplexität wieder erhöhen, um die Bewegungen wechselnden Bedingungen anpassen zu können. Üben heißt also - wenn das Ziel ist, Situationen flexibel lösen zu können, permanent zwischen Kata (im vorgenannten Sinn) und Randori zu pendeln.

Judo verfolgt aber auch nach den Ideen Kanos die Zielsetzung, eine ideale Form der Leibeserziehung zu sein. Randori (ganz allgmein als sich-üben in offenen Situationen) ist in seiner leiblichen Wirkung jedoch nicht per se ideal, weil es zu Einseitigkeiten der Belastung und Anpassung kommt. Daher muss hier - so Kano - eine Ergänzung durch geschlossene Übungsformen erfolgen: mit anderen Worten mit Kata.

Das Verhältnis Kata - Kämpfen ist also ein doppeltes: Kata als Teiler einer Übungsmethodik zur Entwicklung kämpferischer Fähigkeiten und Kata als Ausgleich körperlicher Ungleichmäßigkeiten beim Kämpfen.
Hier sehe ich mehr offene Fragen. Du beschreibst hier, wenn ich dich richtig verstehe, Kata und Randori als zwei Enden eines Kontinuums. Aber zum einen ist ja doch so, dass im Judo, Karate und Taekwondo die Wettkämpfer gänzlich ohne Kata auskommen; d. h. um in diesem Setting erfolgreich zu sein, scheint Kata keinen Beitrag zu leisten. (Natürlich kann man jeden Partner- und Solo-Drill z. B. im Boxen auch als Kata bezeichnen, aber ich beziehe mich jetzt explizit auf die so bezeichneten Judo- und Karate-Kata.) Aber natürlich decken Wettkampf-Situationen nicht alle möglichen gewaltsamen Situationen ab; häusliche Gewalt, Revier-Gewalt, Gewaltmaßnahmen von Polizei und Armee etc. unterscheiden sich davon natürlich in vielen Punkten. Aber hier wird es ja noch schwieriger festzustellen, welchen Nutzen Kata-Training zur Bewältigung solcher Situationen leisten könnte; während auf der anderen Seite 99% aller Akteure in diesen Bereichen ihre Hackordnung und Maßnahmen auch ohne Kata ausmachen. Und ob Kata jetzt das probate Mittel ist, um körperlich einseitige Belastungen zu kompensieren, scheint mir fraglich. Hier würde ich eher an Stretching und Lockerungsübungen, Mobility-Training, Pilates, Feldenkreis, Alexander-Technik, Rolfing etc. als erfolgversprechend denken. Daher: wie die Übung von Kata kämpferische Fertigkeiten bemerkenswert entwickelt und verbessert, ist für mich alles andere als ein Scheinproblem. Wenn ich hingegen andere positive Effekte (z. B. Entwicklung einer bestimmten Körpermechanik; Gedächtnisspeicher für die überlieferten Techniken und Anwendungen; Form der Gymnastik zur allgemeinen körperlichen Fitness) als maßgeblich Aspekte des Kata-Trainings anführe, wäre das für mich plausibel. Für meine persönliche Kampfkunst-Praxis ist es jedenfalls essentiell zu wissen, welche Ziele ich mit der Übung von Kata erreichen kann und will.
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Yannick.Schultze »

Cichorei Kano hat geschrieben:
14.05.2020, 04:54
Die Probleme mit der Kata sind verständlich. Kanô hat 4 wesentliche Wege entwickelt, um Jûdô zu lernen und zu lehren: Vorträge, Diskussionen, Randori und Kata. Allerdings wurde Jûdô im Westen nie auf diese Weise eingeführt, und niemand im Westen lernte oder studierte Jûdô auf diesem 4-Wege-Pfad. Jûdô wurde nur durch einen einzigen Aspekt eingeführt, nämlich durch Randori, aber wirklich nicht einmal Randori, sondern als Shiai; d.h. Shiai als öffentliche Zurschaustellung gegen Praktizierende westlicher Kampfkünste wie Boxen, Ringen, Fangen ...
Hallo zusammen,

als kleine Ergänzung von meiner Seite. Kanô hat damals viel geschrieben, doch leider ist vieles davon auf Japanisch... jedoch hat Dieter Born 2012 einen wichtigen Artikel, bei dem es um Kata geht, ins Deutsche übersetzt. Dank Dieter Born ist es uns möglich Kanos Ideen ein bisschen besser zu verstehen (!) Sie geben genau das wieder, was CK in seinem Post beschreibt.

http://www.turnverein-garmisch.de/filea ... m_Kata.pdf

Viel Spaß beim lesen

LG
Yannick
https://youtu.be/4xgx4k83zzc
————————-
Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ein Ozean. (Sir Isaac Newton)
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von Julian »

Hallo Yannick,

danke für den Link, ein schöner und interessanter Text.
Wenn ich nochmal diese vier Übungsaspekte sehe, scheint mir, dass wir vielleicht hier schon einen gewissen Klärungsbedarf haben. Denn vermutlich wird ja das praktische Training nie ausschließlich in Kata und Randori im Sinne von Freikampf bestanden haben? Vorbereitende Übungen, ergänzende Übungen und vor allem auch Techniktraining - sind die daher bei Kata mit erfasst oder bei Randori? Zum anderen könnte man einen guten Unterrichtsablauf eigentlich immer auch als Vortrag und Lehrgespräch beinhaltend ansehen, insofern der Lehrer ja erklärt, was warum wie und zu welchem mittelbaren und längerfristigen Zweck zu üben ist (Vortrag), und die Schüler ja auch darüber sprechen und Fragen stellen (Lehrgespräch).

Dass früher (in der Kampfkunst im allgemeinen?) nur Kata geübt wurde, und dass Schläge und Tritte nur durch Kata gefahrlos geübt werden können, hmm... Halte ich für sehr unwahrscheinlich. Das man wiederum Schläge und Tritte einfach so lernt, auch. Dass die Kata Bewegungen aufgreifen kann, die so im Randori nicht mehr vorkommen oder die eine oder andere Dysbalance ausgleichen: ja, plausibel.
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Re: Video der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku

Beitrag von nur_wazaari »

Ich greife mal aus dem verlinkten Text (S.11, "Kata kann man auch ohne Lehrer lernen") heraus:
Auch bislang schon hatte ich die Absicht, die Leute zu Kata zu ermuntern, aber bekanntermaßen muss man sich viele Jahre mit Kata herumplagen, denn sonst versteht man sie nicht wirklich. Folglich sind sie nicht so interessant wie Randori. Aus diesem Grunde gibt es auch nicht viele Leute, die Kata unterrichten können. Und weil man sie eben nicht bei jedem lernen kann, werden sie letztlich zur Last, so dass sie kaum gemacht werden. Für die Zukunft habe ich vor, es auch am Kōdōkan möglichst bequem für das Kata-Training zu machen, um noch deutlich mehr Jūdō-Treibende als in der Vergangenheit dazu zu bringen, dass sie sich zum Üben auch dieser Seite des Jūdō entschließen.
Ebenso herausgegriffen:
Junge Leute möchte ich ermuntern, Kata zu machen, weil sie damit die Bereiche kompensieren können, die durch Randori nicht abgedeckt werden; und ältere Leute möchte ich ermuntern, Kata zu machen, weil beim Randori die Bewegungen zu heftig sind.
In Bezug auf die Übungsformen Randori und Kata finden sich in dem Text wohl erfahrungsbasierte, wertende Formulierungen. Es wird ersichtlich, dass sich für das Katatraining der Erfahrung nach in gewisser Weise stärker als für das Randori überwunden werden muss - vielleicht muss man auch erst die Einsicht gewinnen, dass diese Form des Trainings wichtig ist, um an einem gewissen Punkt weiter voranzukommen. Dies ist evtl. auch mit steigendem Lebensalter wahrscheinlicher der Fall. Hier kommt für mich die Verknüpfung mit dem Ego ins Spiel, auch wenn ich noch nicht genau darlegen kann wie das geschieht. Da ist es also wieder, dieses "Ego".
Cichorei Kano hat geschrieben:
11.05.2020, 02:32
Es ist heute schwer, den Menschen zu erklären, dass die SZKT eines der wichtigsten Dinge im Kôdôkan jûdô ist. So viele Menschen in jûdô haben den Wunsch, miteinander zu konkurrieren, das Bedürfnis, zu zeigen, dass sie besser sind als andere, während doch die Vernichtung des Egos eines der wichtigsten Ziele von jûdô ist.
Will man also davon abkommen zeigen zu wollen, dass man besser ist als andere - inwiefern möchte man sich aber dann immer noch selbst beweisen, dass man zur Entwicklung fähig ist? Würde sich ein Egobegriff so wie ihn Kano oder meinetwegen auch wir verstehen auch darauf erstrecken? Angenommen dies wäre so - wofür man vielleicht Hinweise finden könnte - ist dann der Kampf "mit sich selbst" davon auszunehmen? Oder brauchen wir/ich/die meisten von uns/eigentlich niemand diese - ich nenne es mal kompetetive Zweckvorstellung - doch an irgend einer Stelle, um uns motiviert auf das Üben einzulassen? Überspitzt gefragt: Wozu üben wir denn sonst noch? Um des Übens willen? Arbeiten an der Perfektion um der Perfektion willen? In meinen Augen wird es an dieser Stelle schwierig. Und zwar nicht schwierig im Sinne des Übens für denjenigen der weiß warum er übt, sondern im Sinne einer mit dem bloßen Verstand nachvollziehbaren Erklärung. Und das für jene, die bisher möglicherweise keine Erfahrung mit der Wirkung des Übens an sich gemacht haben und gerne eine mehr oder minder rationale Erklärung dafür hätten, was genau denn der Sinn des Übens von Kata sei.

Für mich kann ich sprechen, dass bei mir in einer Rolle als Lehrender infolge einer solchen Reflektion auch Fragen im Selbstverständnis dieser Rolle auftreten - was mache ich eigentlich noch hier, wenn ich den wahren Kern gar nicht an Interessierte vermitteln kann? Und zwar nicht mangels nachlässiger Unfähigkeit, sondern aufgrund der in gewisser Weise natürlichen Art und Weise des Übens von Kata, insbesondere vielleicht der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku? Das hat absolut nichts mit einem Gefühl eigener Minderwertigkeit oder Unzulänglichkeit zu tun - es ist lediglich eine mögliche Schlussfolgerung des Reflektionsprozesses über Sinn, Zweck und Nutzen der Lehre. Diese eine Schlussfolgerung jedenfalls brächte dann auch eine Verstärkung der Aussage mit sich, dass man Kata nicht nur auch ohne Lehrer lernen kann, sondern ab einem gewissen Grad des Fortschritts sogar allein weiterlernen muss, um wiederum die schwer in Worte zu fassende Wirkung des Übens anhand des eigenen Gespürs für Entwicklung zu erfahren. Am Rande sei erwähnt, dass ich mich absolut nicht als Budoromantiker oder Esotheriker bezeichnen würde, falls jemand auf die Idee käme irgendwas "Mysthisches" in diesen Gedanken zu finden.

Mögliches Ergebnis: "Besiege Dich selbst oder einen anderen" etwa, fast schon ein "Wert" unseres dem Kapital nach ausgerichteten Gesellschaftssystems an sich, kann wie mir scheint keine geeignete Motivationsbasis für Katatraining sein; für mich im Übrigen noch nicht mal für das Üben mittels Randori oder irgend eine andere Art ernsthafter Aktivität. Also auch nicht für Judo, so wie ich es verstehen will. Und nun kann man im Abgleich zu dem was die meisten Trainierenden so für Motive mit sich herumtragen überlegen, weshalb ernsthaftes Katatraining zwar schon etwas häufiger Teil der üblichen Judoausbildung ist, aber immer noch und anscheinend auch seit Kanos Zeit eine Art "Herumplagen" abverlangt. Im Übrigen will ich nicht werten, ob das nun eher positive oder negative Konsequenzen für Judo hat. Es soll mir an dieser Stelle genügen, dass es nachvollziehbare Gründe darum gibt, wie die Dinge derzeit liegen.

Ein anderer Aspekt:

Da wir hier im Forum ja schon diverse Diskussionen über mehr oder weniger eigene entwickelte Kata oder Derivaten davon verfolgen durften, stellt sich mir in praktischer Hinsicht dann aber die Frage, was genau man zunächst verstanden haben muss, um a) Kata wirklich und in einer guten Qualität (?) üben zu können und b) evtl. eigene Formen zu entwickeln, aus welchem Grund und für welchen Zweck auch immer. Dazu muss möchte ich anmerken, dass ich Kata keineswegs als "open Source" begreife. Klar ist mir auch, dass es durchaus Unterschiede im Schwierigkeitsgrad gibt, wenngleich ich kein echtes System dabei entdecken kann.

Und auch auf die Gefahr hin, dass es angesichts einer gewissen auch theoretischen Tiefe des Fadens an dieser Stelle ein wenig albern wirkt: Ich kenne aus früheren (Kinder-)Trainingstagen so einige der Bewegungen in der Seiryoku Zenyo Kokumin Taiiku wieder und weiß genau, wie ich als Stippke mit geschlossenen Augen versucht habe mir beispielsweise die versch. Arten der Drehung um die eigene Achse mit anschließendem Wurfeingang vorzustellen. Wir haben das relativ isoliert auch v.a. zur Schulung der Koordination und der Orientierung im Raum geübt. Natürlich wurden die Bewegungen völlig außerhalb des Kontextes dieser oder einer anderen Kata gezeigt, sie ähneln sich aber - wie gesagt isoliert betrachtet - recht stark.
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