Die Gonosen‑no‑kata ist keine offizielle Kodokan‑Kata, wird also auch nicht vom Kodokan gepflegt. In der Judogeschichte sind eine ganze Reihe von verschiedenen "Gonosen‑no‑kata" (u.a. von K. Mifune) entwickelt worden.
Die in Europa am weitesten verbreitete Version geht auf Mikonosuke Kawaishi zurück, der viele Jahrzehnte vor allem das französische Judo ‑ und von dort ausgehend weite Teile des europäischen Judo ‑ maßgeblich beeinflußt hat.
Die "Kawaishi‑Kata" erfuhr im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Veränderungen. Diese Modifikationen entstanden aber "wild", das heißt, ohne daß die Entwicklung der Kata von übergeordneter Stelle koordiniert oder abgesprochen war. Die augenfälligsten Modifikationen sind:
- Ausführung der Techniken im "Kodokan‑Stil" und nicht nach Kawaishi. (Das Kawaishi‑System wich in den Technikbezeichnungen und ‑ausführungen teilweise erheblich vom Kodokan‑Standard ab. So kam es vor, daß dieselben Techniken unterschiedliche Namen hatten, teilweise wurden aber auch für unterschiedliche Techniken die gleichen Namen verwendet. Außerdem lehrte Kawaishi die Eindrehtechniken grundsätzlich mit Kreuzschritteingang, daher stammt auch die in Deutschland verbreitete Bezeichnung "Kawaishi‑Eingang".)
- Die Techniken werden "aus der Bewegung" demonstriert, während bei der Kawaishi‑Kata alle Techniken aus dem Stand ausgeführt werden.
- Zur besseren Verdeutlichung der Angriffe wirft Uke die Angriffstechnik vor der Demonstration der Kontertechnik oder deutet sie zumindest an.
- Der zeitliche Verlauf von Angriff und Verteidigung (also das Timing) unterscheidet sich je nach Ausführungsvariante bei einigen Techniken.
Das Problem der fehlenden Standardisierung
Die Gonosen‑no‑kata ist Bestandteil des Prüfungsprogramms zum 3. Dan. Dadurch ergeben sich zwangsläufig Probleme, wenn es keine gemeinsame Richtlinie für alle an Prüfungen beteiligten Parteien (Prüfer, Lehrer/Referenten, Prüflinge) gibt. Leidtragend ist im Zweifel die schwächste Gruppe ‑ die Prüflinge.
Dieser Zustand kann für einen Verband nicht hinnehmbar sein. Auf dem bundesoffenen Kata‑Workshop 1996 in Hamburg erging von den anwesenden Vereins‑/Verbandsvertretern und Interessenten an die DJB‑Führung der Auftrag, für eine bundeseinheitliche Standardisierung aller Kata zu sorgen, ein Referententeam zu bilden und Lehrmaterial zu erstellen.
Um diesem Auftrag nachzukommen, lud der Bundeslehrwart Ralf Pöhler im November 1996 Kata‑Experten aus der gesamten Republik nach Wiesbaden ein. Alle Landesverbände wurden gebeten, ihre Fachleute ebenfalls dorthin zu entsenden, so daß niemand ausgeschlossen war. Das Ergebnis liegt mit diesem Video und den ergänzenden Hinweisen dieses Skripts vor.
Grundentscheidungen bei der Standardisierung
Die bekannten Varianten der Kata unterscheiden sich sowohl in grundsätzlichen Fragestellungen als auch in Details zu den einzelnen Techniken. Die Expertenrunde mußte zunächst einige Grundfragen klären, bevor an den jeweiligen Techniken gearbeitet werden konnte:
Frage 1: Soll die Festlegung auf eine Variante erfolgen, oder soll es mehrere Varianten zur Auswahl geben?
Antwort der Runde: Wir wollen uns auf eine Version einigen. Dies erleichtert das Erstellen von Material und bereitet auch keine Probleme im Lehrwesen, da nur eine gemeinsame Version auch einheitlich unterrichtet werden kann.
Das heißt nicht, daß künftig alle anderen Versionen "falsch" sind. Wie mit ihnen bei Dan‑Prüfungen umgegangen werden soll, müssen die für das Prüfungswesen zuständigen Gremien ‑ und nicht die Expertenrunde ‑ entscheiden.
Frage 2: Soll die ursprüngliche Kawaishi‑Version rekonstruiert und übernommen werden?
Antwort der Runde: Nein, das Kawaishi‑Judo ist veraltet. Außerdem gibt es zu viele Abweichungen vom Kodokan‑System, was leicht zu Irritationen führen kann. Das Studium des Kawaishi‑Systems kann lediglich aus historischer Sicht interessant sein. Als Prüfungsgrundlage für Dan‑Prüfungen würde der Rückgriff auf diese Systematik das Judo in Deutschland nicht weiterbringen!
Dennoch herrschte Einigkeit darüber, daß die Techniken in Anlehnung an Kawaishi weitgehend erhalten bleiben sollten.
Frage 3: Soll Uke die Angriffstechnik vorher werfen, ansetzen oder irgendwie verdeutlichen?
Antwort der Runde: Das kann für Demonstrationen vor einem Laienpublikum u.U. sehr hilfreich sein und soll dort auch stattfinden. Bei einer Dan‑Prüfung ist aber lediglich eine dynamische Technikausführung der Kontertechnik gefragt, weil man voraussetzen kann, daß Dan‑Prüfer die jeweiligen Angriffstechniken kennen. Es ist eine Demonstration von Fachleuten für Fachleute! Daher sieht die DJB‑Version der Gonosen‑no‑kata keinen vorherigen Wurf Ukes o.ä. vor.
Frage 4: Soll Uke "aus dem Stand" oder "aus der Bewegung" angreifen?
Antwort der Runde: Jegliche Ausführung von Judotechniken ist an geeignete Ausgangssituationen gebunden. Nur dann sind Angriffs‑, Verteidigungs‑ und Kontertechniken sinnvoll und realistisch. Gerade aus diesem Grunde wurde die Ausbildungs‑ und Prüfungsordnung revidiert. Es wäre unlogisch und gleichzeitig ein Rückschritt, wenn Uke aus einer "neutralen" Standposition angreifen würde. Die "Bewegung", aus der heraus angegriffen wird, muß ein Teil von Ukes Angriff sein (weitergehende Erläuterungen s.u.).
Frage 5: Soll Uke bei seinen Angriffen Fehler machen, die Tori zum Kontern ausnutzt, oder sollen die Angriffe möglichst "optimal" sein?
Antwort der Runde: Natürlich entstehen Konterchancen oft erst durch Fehler in der Angriffstechnik (falsche Situation, falscher Moment, schlechte Koordination usw.). Eine Kata soll aber ideales Judo beinhalten. Würden wir uns der "Fehler‑Theorie" anschließen, wäre schlechtem Judo Tür und Tor geöffnet, denn wo sollte man die Grenze ziehen? Jeder "Katastrophen‑Angriff" wäre legitim ‑ er müßte nur schlecht genug sein, damit die Kontertechnik funktioniert!
Kann aber im Gegenzug eine "optimale" Technik gekontert werden? Wir meinen ja ‑ wenn sie rechtzeitig erkannt wird!
Uke beginnt jeden seiner Angriffe mit der Schaffung der jeweiligen Ausgangssituation, d.h. er schiebt, zieht, dreht usw. Ein erfahrener Judoka erkennt an der speziellen Vorbereitung, die für jeden Wurf auch bei scheinbar gleicher Ausgangssituation etwas anders ist, mit welcher Technik Uke angreifen wird. Hierdurch kann er seine Kontertechnik so frühzeitig einleiten, daß auch ein zunächst optimal erscheinender Angriff gekontert werden kann.