zum Thema Leistungssportförderung, Internatsbetrieb und wünschenswerte Bedingungen (z.B. Schulform) für Leistungssport läuft ja gerade in einem parallelen Faden eine lebhafte Diskussion, in welcher munter mit persönlicher Meinung um sich geworfen wird, ohne aber die tatsächlichen Gegebenheiten im Bereich der Leistungssportförderung zu beachten.
Da ich ja nun einmal meine Brötchen als Mitarbeiter eines Leistungssportinternates verdiene, bilde ich mir ein hier ein wenig zur Aufklärung beitragen zu können, vielleicht kühlt dann der eine oder andere auch wieder ab. Zumindest bin ich sicher unverdächtig, irgendeiner Partei in Hessen zugehörig zu sein .
Bedingte Zustimmung. Was hier vollkommen fehlt, ist die Grundvoraussetzung eines Internates, nämlich die Schulanbindung. Ziel eines Internatsbetriebes ist die Verbindung von Wohnort und Schule, daher gehört die Überprüfung möglicher Partnerschulen mit in den ersten Schritt. Die Schule muss anschließend die Anerkennung als "Partnerschule des Leistungssportes" beantragen, welche unabdingbar ist für die Gewährung von Vergünstigungen, beispielsweise zusätzliche Lehrerstellen um Stundenausfall durch Vormittagstraining, Wettkämpfe, auswärtige Lehrgangsmaßnahmen etc. auszugleichen. Sinnvoll wäre auch die Möglichkeit der Schulzeitstreckung. In Hessen gibt es insgesamt 3 Schulen, an denen Judo an einer Partnerschule angeboten wird. In Wiesbaden nur eine, die anderen in Kassel und Rüsselsheim. Für den infragekommenden Ort Wiesbaden (um welchen sich die Diskussion dreht) gibt es nur ein Gymnasium, welches die logistischen Voraussetzungen bietet. Damit scheiden Real- und Hauptschüler, so bedauerlich das sein mag, in erster Linie aus. In Hannover gibt es beispielsweise 2 Schulen, welche mit dem OSP zusammenarbeiten, ein Gymnasium und eine KGS, was den Niedersachsen auch ermöglicht, Haupt- und Realschüler ins Internat aufzunehmen. In Hessen scheint dies jedoch aus formalen Gründen (noch) nicht möglich zu sein.judosushie hat geschrieben:Die normale logische und planvolle Herangehensweise an solch ein Projekt wäre:
Man erstellt als erstes ein Konzept (Anzahl der Plätze, Altersstruktur, räumliche Bedingungen, personelle Voraussetzungen, personeller Bedarf, pädagogisches Fachpersonal, finanzieller Bedarf, Kosten pro Platz, steuerliche Auswirkungen, mögliche in Frage kommende Rechtsformen, Trägerschaft, möglichen Zuschüsse, etc.).
Zustimmung, sofern das Internat ein Angebot des Fachverbandes ist. Dies hat hier aber noch niemand bestätigt. Sollte die Trägerschaft eine andere sein (Eltern, LSB, ein beteiligter Verein etc.), wäre die Mitgliederversammlung außen vor.judosushie hat geschrieben:Parallel dazu recherchiert man die gesetzlichen Bestimmungen und Auflagen, prüft ob diese umsetzbar sind, verpackt die gesamten Ergebnisse in eine schmucke Präsentation und stellt diese dann des obersten Organs des Landesverbandes (Mitgliederversammlung) zwecks Diskussion und Genehmigung vor.
Aus grundsätzlichen pädagogischen Erwägungen kann ich dem zustimmen, nachdem ich aber Partnerschulen des Leistungssport und Hessen gegoogelt habe, habe ich eben festgestellt, dass all die Dinge, die eine Internatsunterbringung sinnvoll machen, eben im Moment in Hessen nur mit Gymnasien möglich sind. Zumindest wenn es um die Sportart Judo geht. Der LT weiß also offensichtlich, wovon er redet.judosushie hat geschrieben:Wichtig dabei ist, das man alle Schulformen (Haupt- und Realschule sowie Gymnasium) mit ins Konzept einbezieht und sich nicht nur auf Gymnasiasten versteift wie unser hauptamtlicher LT.
Hier liegst Du richtiger, als Du vermutlich selber ahnst, denn die Lehrer an einer solchen Schule können per se nicht verpflichtet werden, Nachholunterricht zu geben, sondern die Verbände sind hier immer auf "Good Will" der beteiligten Lehrer angewiesen. Wenn ein Lehrer keine Lust hat, oder Leistungssport blöd findet, dann kann ihn nichts und niemand zwingen, den versäumten Stoff mit den betreffenden Schülern nachzuarbeiten (zwingt sie ja niemand Leistungssport zu machen, könnten ja auch einfach in den Unterricht kommen).judosushie hat geschrieben:Enorm wichtig ist die schulische Einbindung solch eines Internats. Ohne eine unabdingbare Unterstützung des Lehrerkollegiums ist die Umsetzung und ein langfristiges Bestehen des Internats nicht möglich. Vorteilhaft ist natürlich, wenn an den einzelnen Schulformen Lehrer mit einem Judobackground beschäftigt sind.
Zustimmung. Auch wenn das ein ständiger Kampf ist, den wir nach mittlerweile über 12 Jahren immer noch täglich führen.judosushie hat geschrieben:Zu einer langfristigen Akzeptanz solch einer Einrichtung bei den Eltern gehören flankierende Maßnahmen wie gesunde sportlergerechte Ernährung, Hausaufgabenbetreuung, Nachhilfeunterricht, Integration in soziale Strukturen, Einbeziehung von Schulsozialarbeitern, pädagogische Nachmittagsbetreuung, etc.
Hierfür ist im Allgemeinen nicht der Fachverband sondern die Laufbahnberatung des LSB zuständig. Es wäre auch höchst unsinnig, wenn sich jeder kleine Fachverband einen eigenen Spezialisten zum Thema Laufbahnberatung leisten würde. Dies ist ein enorm umfangreiches Arbeitsfeld und für ein oder zwei Absolventen im Jahr lohnt sich dieser Aufwand nicht. Dieses Arbeitsfeld ist beim LSB deutlich besser aufgehoben.judosushie hat geschrieben:Nicht vernachlässigen darf man auch den Anschluß nach der Schulzeit. Es sollte Möglichkeiten geben für eine Berufsausbildung (sportaffine Unternehmen) bzw. Studium (sportaffine Fachhochschulen bzw. Universitäten), die die sportlichen Belange der jungen Judoka berücksichtigen.
Wer den Trainingsaufwand dieser jungen Sportler täglich sieht (so wie ich) der weiß genau, dass für eine entsprechende Ausbildung gar keine Zeit mehr bleibt. Es sei denn, man würde ihnen die Lizenz quasi schenken wollen und dass macht keinen Sinn.judosushie hat geschrieben:Innerhalb der judospezifischen Ausbildung in diesem Internat sollten auch alle Nachwuchsjudoka mit Erreichen ihres 18. Lebensjahres die Ausbildung zum Trainer C abgeschlossen haben.
Es bleibt jedoch festzuhalten, dass nur dort und noch bei wenigen anderen, sehr dünn gesäten Firmen die Möglichkeit einer gestreckten Ausbildung und entsprechende Freistellungen für Training, Lehrgänge und Wettkämpfe möglich ist. Oder eben im Rahmen eines Studiums. Mir ist keine kleine Handwerksfirma bekannt, wo ein talentierter Realschüler eine Handwerkslehre absolvieren kann und gleichzeitig von Berufsschule und Firma nach Belieben (bzw. den Erfordernissen und Beliebigkeiten des Sportes) frei bekommt. Grad heute hatten wir den Fall, dass eine Schülerin für eine internationale Maßnahme kurzfristig nachnominiert wurde und die gesamte nächste Woche weg ist. Solche kurzfristigen Freistellungen sind mit Unternehmen nur schwer und mit kleinen Handswerksfirmen sicher gar nicht zu machen, wenn diese gleichzeitig Termine mit Kunden einhalten müssen.judosushie hat geschrieben:Es kann und will nicht jeder zur Bundeswehr (Sportförderkompanie) bzw. zur Polizei.
Im Falle der Entscheidung, welcher Sportler weiterhin gefördert wird, der Polizeianwärter mit entsprechenden Dienstzeitfreistellungen oder der angehende Erzieher, der wahrscheinlich in seiner schulischen Ausbildung nicht die Möglichkeit der Freistellung hat, ist diese eindeutig für den Polizeianwärter zu treffen. Sollte sich jedoch in einem Bundesland die Möglichkeit ergeben, dass es eine Kooperation mit einer Fachschule für Sozialpädagogik gäbe, welche Leistungssportlern z.B. eine 6- statt 4-jährige schulische Ausbildung ermöglicht, wäre sie auch für den Leistungssport interessant.Tirant lo Blanc hat geschrieben: Wenn sich beispielsweise ein sehr guter Judoka entscheidet, Kindergärtner zu werden, dürfte ihm keine sportliche Förderung mit der Begründung verwehrt werden, daß es angeblich sinnvoller wäre, die Förderung seitens des Verbandes auf Judoka im Polizeidienst zu konzentrieren, weil diese nun einmal erfahrungsgemäß bessere Kämpfer als Kindergärtner seien. Wer sich dafür entscheidet, einen Realschulabschluß anzustreben, um danach eine Lehre zu beginnen, darf, wenn er ein guter Judoka ist, nicht gegenüber einem Gymnasiasten, der das Abitur ablegen möchte, benachteiligt werden.
Nochmals. Es kommt bei der Präferenz gewisser Berufe auf die Kompatibilität mit dem Leistungssport an. Nur wer bereit ist, sich gewissen Spielregeln zu unterwerfen, hat die Möglichkeit, entsprechende Förderungen zu bekommen. Das gleiche gilt für die Förderung durch die Sporthilfe. Wenn man sich entscheidet, eben eine Handwerksausbildung zu machen und dafür nur noch eingeschränkt trainieren kann, ist das jedermanns persönliche Entscheidung. Mit den Strukturen des deutschen Leistungssportes ist das aber nicht vereinbar, sofern man nicht das Glück hat z.B. bei einem Wolfsburger Autobauer unterzukommen, der einem die Möglichkeit einräumt, seine Lehre in 5 anstatt in 3,5 Jahren zu machen und einen dafür halbtägig für das Training freistellt.
Unter den oben Aspekten sind solche Aussagen zu sehen, die nicht diskriminierend gemeint sind, sondern eben nur den gesellschaftlichen Realitäten Rechnung tragen. Ein Abiturient steht dem Spitzensport 12 (bei Schulzeitstreckung sogar 13) Jahre zur Verfügung. Ein Haupt- oder Realschüler nur 10. Damit erreicht ein Haupt- oder Realschüler noch nicht einmal die U20,während der Abiturient unter optimalen Bedingungen bis an die Erwachsenen herangeführt werden kann (im Idealfall). Auch bei den Realschülern in Niedersachsen ist es immer das Ziel, nach der Klasse 10 weiter in die gymnasiale Oberstufe zu gehen. Es hat in 12 Jahren Internatsbetrieb nur einen mir bekannten Fall gegeben, bei dem ein Schüler, der nach Klasse 10 auf eine Berufsschule gewechselt ist, trotzdem noch den sportlichen Anschluss halten konnte. Alle anderen sind an der Unvereinbarkeit Berufsschule/Spitzensport gescheitert.Tirant lo Blanc hat geschrieben:In Hessen soll nun - beispielsweise im April 2010 - die These vertreten worden sein, daß es nicht sinnvoll sei, für Judo begabte Haupt- oder Realschüler im selben Umfang zu fördern wie diejenigen für Judo begabten Judoka, welche ein Abitur anstrebten oder studierten. Zu einem Spitzensportler gehöre, so die verwegene Behauptung, die angeblich ein hessischer Landestrainer dem Vater eines Athleten gegenüber ausgesprochen haben soll, eben ein “höherer” Schulabschluß oder ein Universitätsstudium, Judoka mit “niedrigem” Schulabschluß (darunter scheint er einen Haupt- oder Realschulabschluß, eine Lehre oder einen Meistertitel verstanden zu haben) seien im Vergleich zu Abiturienten und Studenten weniger förderungswürdig. Die verfügbaren Mittel des HJV müßten daher vorrangig zur Förderung von für Judo begabten Gymnasiasten und Studenten eingesetzt werden.
Nun kann man vortrefflich mit dem Grundgesetz winken und nach Chancengleichheit rufen, aber mit Gleichheit und Rechten, auch Grundrechten ist das im Spitzensport so eine Sache.
Ein gutes Beispiel hierfür wäre, dass 16jährige sich beim Wasser lassen vom NADA-Kontrolleur/in per Sichtkontrolle in/auf die intimsten Teile blicken lassen müssen. Wo da die Grundrechte bleiben fragt ja auch kein Mensch, aber das ist jetzt doch arg Off-Topic.
LG
Olaf