Ronin hat geschrieben:Aber was für mich entscheidend ist, er hat nach der ungefähren Reihenfolge gelernt, die die Gokyo vorgegeben hat, wie ich früher auch. OK, da war sicher auch mal einer etwas früher dran und einer etwas später, aber im wesentlichen war es diese Reihenfolge.
In der ungefähren Reihenfolge der Gokyo habe ich die Wurftechniken auch gelernt - die APO orientiert sich aber auch ungefähr an der Reihenfolge der Gokyo, wenn man die halben und die vollen Gürtel mal in einem Block zusammenfasst.
Ich glaube schon, dass bei der Zusammenstellung der Gokyo Gedanken über eine ungefähre Reihenfolge des Lernens angestellt wurden. Nur muss man einige Dinge von vorneherien klar sehen, damit man nicht etwas hineininterpretiert, was nicht intendiert ist/war:
- die Gokyo wurde nicht als strenge Reihenfolge des Vermittelns geschaffen und verwendet
- die Gokyo war in Japan keine Grundlage für Kyu-Prüfungen
- in Japan war das Beherrschen der Gokyo nie Voraussetzung für den 1. Dan
- welche Überlegungen genau angestellt wurden, welche Kriterien angelegt wurden usw. ist nicht bekannt (dank Daigo außer der Information, dass die Anwendung im Randori eine Rolle spielte, ob eine Technik in die Gokyo aufgenommen wurde oder dort verblieb - jedoch ohne eine Aussage über die Stelle innerhalb der Gokyo)
- wir wissen außerdem nicht von allen Techniken, wie sie im Jahr 1920 überwiegend ausgeführt wurden.
Vor dem Hintergrund dieser Punkte kann man nun einmal die Anordnung der Techniken in der Gokyo betrachten und einige Beobachtungen machen, die man für Zufall oder für beabsichtigt halten kann (belastbare Quellen für eine Absicht gibt es nämlich nicht):
- in jeder Stufe der Goyko ist mindestens eine Te-waza, Koshi-waza und Ashi-waza enthalten
- in den ersten beiden Stufen sind keine Sutemi-waza enthalten. Jedoch ist in den weiteren drei Stufen immer mindestens eine Ma-sutemi und eine Yoko-sutemi-Waza enthalten.
Wir können also festhalten, dass die Techniken der bekannten Wurfgruppen über alle Stufen verteilt worden sind, wobei die unteren Stufen frei von Sutemi-waza gemacht wurden. Dies deckt sich damit, dass in Japan die Sutemi-waza erst sehr spät gemacht wurden.
Man kann also feststellen, dass derjenige, der die Techniken nach den Stufen der Gokyo lernt, stets einen bunten Mix unterschiedlicher Wurftechniken lernt, wobei die Sutemi-waza erst bei den Fortgeschrittenen eingeführt werden. Ein solchen Vorgehen macht grundsätzlich unzweifelhaft Sinn.
Schauen wir in die einzelnen Technikgruppen hinein. Fangen wir dazu vielleicht mit den Te-waza an.
1. Stufe: Seoi-nage
2. Stufe: Tai-otoshi
3. Stufe: Kata-guruma
4. Stufe: Sukui-nage, Uki-otoshi
5. Stufe: Sumi-otoshi
Auch aus heutiger Sicht wird man sagen, dass Seoi-nage und Tai-otoshi an den Anfang der Te-Waza gehören sollten und Uki- und Sumi-otoshi an das Ende. Über Kata-Guruma und Sukui-nage ließe sich diskutieren. Da Kata-guruma jedoch von J. Kano um das Jahr 1906 in der Nage-no-Kata den Vorzug vor Sukui-nage bekommen hat und gleichzeitig vermutlich Te-guruma noch keine große Rolle spielte, lag die Entscheidung so wie sie getroffen wurde aus damaliger Sicht nahe. Andere Te-Waza, wie Kuchiki-daoshi, Morote-gari und Kibisu gaeshi waren - laut Daigo - um 1920 noch nicht wirklich populär im Randori, so dass es kein Wunder ist, dass sie nicht berücksichtigt waren.
Wie schaut es nun mit den Koshi-waza aus. Wir finden in der Gokyo folgende Reihung:
1. Stufe: Uki-goshi, O-goshi
2. Stufe: Koshi-guruma, Tsuri-komi-goshi, Harai-goshi
3. Stufe: Tsuri-goshi, Hane-goshi
4. Stufe: Utsuri-goshi
5. Stufe: Ushiro-goshi
Wenn nicht Tsuri-goshi in gewisser Weise ein Fremdkörper wäre, hätten wir den klaren Aufbau nach Eindrehtechniken auf zwei Beinen, Eindrehtechniken auf einem Bein und Hüfttechniken, bei denen mit die vordere Hüfte eingesetzt wird. Würden wir Tsuri-goshi und Harai-goshi, sowie Ushiro-goshi und Utsuri-goshi tauschen, dürften wir auf allgemein Zustimmung hoffen, dass dies nach Schwierigkeit angeordnet ist. Zu Tsuri-goshi habe ich keine Idee. Bei den beiden letztgenannten könnte es eine Frage von anderen Ausführungen sein, die damals üblich waren. Ich will das jetzt aber nicht weiter vertiefen, weil ich von hier aus nicht in meine Bücher schauen kann.
Ein ähnliches Bild erhalten wir, wenn wir uns die Ashi-waza vornehmen:
1. Stufe: De-ashi-barai, Hiza-guruma, Sasae-tsuri-komi-ashi, o-soto-gari, o-uchi-gari
2. Stufe: ko-soto-gari, ko-uchi-gari, okuri-ashi-barai, Uchi-mata
3. Stufe: Ko-soto-gake, Ashi-guruma, Harai-tsuri-komi-ashi
4. Stufe: o-guruma
5. Stufe: o-soto-guruma
Bei so vielen Techniken müssen wir kleine "Grüppchen" bilden
- de-ashi-barai -> okuri-ashi-barai -> Harai-tsuri-komi-ashi: macht Sinn in dieser Reihenfolge!
- "große" Sicheln --> "kleine" Sicheln, Außensicheln --> Innensicheln: mach Sinn in dieser Reihenfolge
- die Räder: Hiza-guruma -> ashi-guruma -> o-guruma -> o-soto guruma: macht ebenfalls Sinn, vor allem, wenn man die Häufigkeit im Randori mit berücksichtigt.
Die übrigen Ashi-waza sind auch nicht so ungeschickt platziert....
Wie schaut es bei den Ma-sutemi-waza aus?
3. Stufe: Tomoe-nage
4. Stufe: Sumi-gaeshi
5. Stufe: Ura-nage
Die Reihenfolge braucht so wohl nicht weiter kommentiert zu werden....
Der Vollständigkeit halber noch die Yoko-sutemi-waza:
3. Stufe: Yoko-otoshi
4. Stufe: Tani-otoshi, Hane-maki-komi, Soto-maki-komi
5. Stufe: Uki-waza, Yoko-wakare, Yoko-guruma, Yoko-gake
Yoko- und Tani-otoshi sind sicherlich kein schlechter Einstieg, die Reihenfolge der beiden Maki-komi erschließt sich mir nicht - wohl aber die Sinnhaftigkeit sie nach den entsprechenden Koshi-waza zu platzieren - und für den Rest bleibt eh nur noch die letzte Stufe (und mir kaum mehr Zeit).
Zum bunten Mix kommt also noch hinzu, dass innerhalb der Wurfgruppen:
- durchaus Schwierigkeitsgrade erkennbar sind
- Techniken, die im Randori häufiger gemacht werden eher vor den Techniken kommen, die im Randori weniger häufig vorkommen.
Hinter der Stufeneinteilung der Gokyo steckt scheinbar doch etwas mehr als Beliebigkeit. Was heißt das aber für den Umgang mit ihr? Auf jeden Fall - das ist meine Überzeugung - dürfen wir nicht "japanischer sein als die Japaner" und der Gokyo aufgrund dieser Beobachtungen eine Bedeutung beimessen, die der Gokyo in Japan nie zugekommen ist - und das schon gar nicht mit der Begründung "Tradition", denn diese ist eine erfundene.
Vielleicht macht sich aber einmal jemand die Arbeit und ordnet die Reihenfolge der Wurtftechniken der APO in gleicher Weise, wie ich es mit der Gokyo tat, sinnvollerweise die halben und die vollen Gürtel zusammengefasst. Dann schauen wir einfach einmal, ob folgende Kriterien erfüllt sind:
- bunter Mix aus allen Wurfgruppen in jeder Stufe
- Sutemi Waza erst bei den Fortgeschrittenen einführen
- Hüfttechniken auf beiden Beinen, vor einbeinigen, vor Werfen mit der voderen Hüfte
- Reihenfolge der Fußfeger
- Außensicheln vor Innensicheln
- Reihenfolge der Te-waza
- usw.
Zur Überraschung vieler wird herauskommen, dass Unterschiede nur in sehr geringem Maß bestehen.
Und dort, wo sie gemacht wurden, liegen die Gründe in der Anpassung an (junge) Kinder.
Ronin hat geschrieben:Mir (und unseren braungurt auch) erschliessen sich Zusammenhänge von Würfen (und auch Unterscheidungsmerkmale vo Würfen heute und auch früher ganz anders, als ich das bei den heutigen Schülern beobachten kann. Die lernen einen Wurf und dann lernen sie einen anderen Wurf. Für sie hat das nichts miteinander zu tun und ist eben "nur" auswendig gelernt. Dass Würfe aufeinander aufbauen fällt irgendwie niemandem mehr auf, dass der eine oder andere verschiedene Merkmale hat, die immer wieer auftauchen fällt irgendwie niemandem auf (z.B. alles was mit Maki Komi endet hat immer mit verdrehen zu tun, das habe ich kürzlich mal wieder gesagt und wurde von hochrangigen leuten angeschaut, als hätte ich ihnen eben die Relativitätstheorie verständlich gemacht...).
Das alles kann ich ebenfalls häufig beobachten. Aber genau diese Dinge hängen m.M.n. in erster Linie davon ab, worauf der Trainer bei der Vermittlung wert legt und worauf eben nicht (mehr). Und es hängt natürlich vom Alter der Lernenden ab, ob sie es verstehen, denn genau diese Dinge, die ja eine theoretische Reflexion voraussetzen, sind sehr stark vom Entwicklungsstand abhängig.
Kinder, die in jüngeren Jahren allerding diese Zugehensweise nicht gelernt haben, dürften vermutlich später als Jugendliche diese Denkeweise eher weniger anwenden, auch wenn sie zwischenzeitlich in der Lage wären, diese Dinge besser zu verstehen.