Kodokan Goshin Jutsu: 2. Gruppe im Kontext der anderen Kata

Kime-no-Kata, Kodokan Goshinjitsu und verwandte Kata
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tutor!
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Kodokan Goshin Jutsu: 2. Gruppe im Kontext der anderen Kata

Beitrag von tutor! »

Nach der Darstellung und dem Vergleich der 1. Serie der Kodokan Goshin Jutsu („Verteidigung gegen Fassen und Greifen“) möchte ich den Faden weiterspinnen und die 2. Serie („Verteidigung gegen Schlagen, Stoßen und Treten“) im Kontext der anderen, älteren Kodokan Kata, namentlich der Kime-no-Kata und der Kime-shiki (die Joshi Goshinho enthält keine derartigen Angriffe) beschreiben.

Die 2. Serie besteht aus fünf Aktionen, drei davon gegen Angriffe mit der Faust und zwei gegen Angriffe mit den Füßen:
  • Naname-uchi: Faustschlag von der Seite
  • Ago-tsuki: Aufwärtshaken
  • Gammen-tsuki: gerader Fauststoß zum Kopf
  • Mae-geri: gerader Fußtritt
  • Yoko-geri: seitlicher Fußtritt
Zum schnellen Auffinden: (ab: 2:23)

(1) Naname-uchi

Schläge von der Seite zum Kopf gibt es in mehreren Kodokan Kata, auch z.B. in der Ju-no-Kata, in der aber mit der rechten Hand von links, also sozusagen als „Rückhandschlag“ geschlagen wird, weswegen ich diese Form jetzt nicht weiter verfolgen möchte.

Bei Naname-uchi weicht Tori Ukes Schlag aus und führt dessen Hand mit seiner linken Hand weiter nach schräg unten. Unmittelbar darauf platziert er mit seiner rechten Faust einen Aufwärtshaken an Ukes Kinn, greift von vorne an Ukes Hals (Kehlkopf) und wirft mit O-soto-otoshi (wobei hier auch oft O-soto-gari genannt wird).

In der Kime-no-Kata heißt die korrespondierende Technik „Yoko-uchi“ und taucht sowohl aus dem Kniesitz als auch im Stand auf. Tori taucht jeweils unter Ukes Schlag hindurch. Aus dem Kniesitz wirft er Uke nach hinten um (Kopfkontrolle ähnlich Kata-gatame) und schließt mit einem Ellbogenstoß zum Solar Plexus ab. In der Standserie geht Tori hinter Uke und würgt ihn mit okuri-eri-jime ab.

In der Kime-shiki wird ebenfalls mit Yoko-uchi angegriffen. Uke weicht ähnlich wie in der Kodokan Goshin Jutsu aus, leitet Ukes Schlag weiter und kontert mit einem Faustschlag gegen Ukes Kinn. Jedoch ist die Aktion hier beendet, wohingegen in der Kodokan Goshin Jutsu noch die Wurftechnik angeschlossen wird.

(2) Ago-tsuki

Die Verteidigung gegen Aufwärtshaken findet sich in allen drei SV-Kata (und auch in der Ju-no-Kata).

In der Kime-shiki wird der mit rechts geschlagene Aufwärtshaken mit der linken Hand abgewehrt und und nach oben weitergeführt. Tori kontert mit einem Fauststoß in die Magengegend.

In der Kime-no-Kata wird der Schlag mit beiden Händen abgewehrt, nach oben weitergeführt und dann Ukes Arm mit beiden Händen heruntergezogen und mit Waki-gatame gehebelt.

In der Kodokan Goshi Jutsu ist diese Technik kompliziert, vielleicht sogar die schwierigste Technik der Kata – wobei das natürlich immer subjektiv ist. Tori wehrt Ukes Faust mit rechts ab, greift Ukes Handgelenk mit der rechten Hand und greift gleichzeitig mit der linken Hand in Ukes Ellbogenbeuge. Durch Drehen des Handgelenks in der Art eines Kote-hineri und Schieben gegen den Ellbogen bringt er Uke aus dem Gleichgewicht und kann ihn von sich weg werfen.

(3) Gammen-tsuki

Der Angriff mit dem geraden Fausstoß kommt sowohl in der Kime-no-Kata als auch in der Kodokan Goshin Jutsu vor, nicht jedoch in den anderen SV-Kata.

Interessant: in der Kime-no-Kata wird mit rechts geschlagen, in der Kodokan Goshin Jutsu mit links. Wer beides übt – wie es gedacht ist – deckt also beide Seiten ab.

Ansonsten gibt es Gemeinsames und Unterschiede. In beiden Fällen wird mit Hadaka-jime abgeschlossen, wobei Uke deutlich nach hinten aus dem Gleichgewicht gebracht werden muss, damit er sich nicht herausdrehen kann (vgl. 1. Serie „Ushiro jime“).

Auf dem Weg dorthin gibt es einen wesentlichen Unterschied. In der Kodokan Goshin Jutsu versetzt Tori Uke auf dem Weg hinter ihn einen Fausstoß in die Nieren, während Tori in der Kime-no-Kata den vorschnellenden Arm von Uke nach vorne unten drückt, Uke damit etwas aus dem Gleichgewicht bringt - sich so auch gegen einen Konter schützt - und die Gegenreaktion des Aufrichtens nutzt, um hinter Uke zu kommen.

(4) Mae geri

Gegen Fußtritte wird nur in der Kodokan Goshi Jutsu und in der Kime-no-Kata verteidigt. In letzterer auch nur gegen einen geraden Fußtritt.

In beiden Fällen wird gegen den geraden Fußtritt zu Seite ausgewichen und der Fuß mit den Händen „gefangen“. Während aber in der Kime-no-Kata ein Gegenangriff mit Tritt in die Genitalien erfolgt, wirft Tori Uke in der Kodokan Goshin Jutsu nach hinten um.

(5) Yoko geri

Die Verteidigung gegen den seitlichen Fußtritt gibt es nur in der Kodokan Goshin Jutsu. Tori weicht aus, blockt Ukes Tritt, geht hinter Uke und reißt diesen nach hinten um, bevor dieser nach dem Absetzen des angreifenden Beins sein Gleichgewicht wieder vollständig herstellen konnte.

Zusammenfassung

Wie auch für die erste Serie können wir festzustellen, dass die Kodokan Goshin Jutsu Situationen aufgreift, die in anderen Kata vorkommen und ergänzende, bzw. weiterführende Lösungen anbietet. In diesem Sinn ergänzt sie die Selbstverteidigung des Kodokan.

Jedoch darf eines nicht übersehen werden: es handelt sich bei den gezeigten Aktionen nicht unbedingt um Strategien gegen ausgebildete Kampfsportler oder Kampfkünstler. Den Fußtritt eines Laien mag man noch „fangen“ können, den Mae-geri eines guten Karateka sicherlich kaum. Genauso wie man sich schwer tun wird, einer Geraden eines Boxers auszuweichen und diesen dann von schräg hinten in die Nierengegend zu schlagen.

Gegen ausgebildete Kampfsportler/-künstler in Distanzdisziplinen bedarf es sicher etwas anderes als dieser Kata.
I founded a new system for physical culture and mental training as well as for winning contests. I called this "Kodokan Judo",(J. Kano 1898)
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neuer Gast

Re: Kodokan Goshin Jutsu: 2. Gruppe im Kontext der anderen Kata

Beitrag von neuer Gast »

Gegen ausgebildete Kampfsportler/-künstler in Distanzdisziplinen bedarf es sicher etwas anderes als dieser Kata.
Ja?
Was denn?
Jedoch darf eines nicht übersehen werden: es handelt sich bei den gezeigten Aktionen nicht unbedingt um Strategien gegen ausgebildete Kampfsportler oder Kampfkünstler. Den Fußtritt eines Laien mag man noch „fangen“ können, den Mae-geri eines guten Karateka sicherlich kaum. Genauso wie man sich schwer tun wird, einer Geraden eines Boxers auszuweichen und diesen dann von schräg hinten in die Nierengegend zu schlagen.
Dann ist die Kata nur gegen Angreifer die eh nicht kämpfen können?
Was mache ich dann gegen einen der das aber kann?
tutor!
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Re: Kodokan Goshin Jutsu: 2. Gruppe im Kontext der anderen Kata

Beitrag von tutor! »

Eine nicht zu übersehende Gemeinsamkeit aller SV-Kata des Kodokan Judo ist, dass es Uke niemals gelingt, sich gegen den Gegenangriff von Tori zu verteidigen und einen zweiten Angriff zu starten (wie es z.B. in der Ju-no-Kata bei einigen Techniken der Fall ist). Toris Aktion "sitzt" also stets beim ersten Versuch. Des Weiteren sind die möglichen Angriffsvariationen in der Realität deutlich zahlreicher als in den SV-Kata auch in ihrer Summe tatsächlich enthalten sind. Uke greift z.B. auch nie mit einer Finte an.

Die Kata illustrieren in der Tat nur allgemeine Grundlagen, die für eine Vielzahl von Situationslösungen/Techniken "gelten" und die exemplarisch in den Kata trainiert werden sollen, damit sie auf ähnliche Situationen/Techniken übertragen werden können. Sie tragen vor allem zum besseren Verständnis bei und haben u.a. darin ihren Wert. Transfer und auch Variation müssen aber natürlich zusätzlich auch trainiert werden.

Eine Stärke des Kodokan gegenüber anderen Stilen zum Ende des 19 Jahrhunderts bestand vor allem darin, dass sehr viel Randori gemacht wurde, die Techniken also in freien Anwendungssituationen geübt wurden und nicht nur in vorgegebenen Rollen. Und genau dies - um Deine Frage zu beantworten - müsste man trainieren: freie Technikanwendungen in Randori-ähnlichen Übungsformen mit/gegen Vertreter anderer Disziplinen (Boxen, Karate, Ringen usw.), einerseits um deren Strategien kennen zu lernen und um andererseits die eigenen Techniken gegen verteidigende und mit Kombinationen und Finten angreifende Gegner zu trainieren. Dies passiert heute vor allem in den Mixed Martial Arts (deshalb heißt das ja auch so).

Mit dem alleinigen Training der SV-Kata des Kodokan Judo wird man sich kaum auf SV-Situationen vorbereiten können und erst recht nicht gegen ausgebildete Vertreter anderer Disziplinen. Das ist der Kern und Hintergrund meiner Aussage.
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Fritz
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Re: Kodokan Goshin Jutsu: 2. Gruppe im Kontext der anderen Kata

Beitrag von Fritz »

tutor! hat geschrieben:Mit dem alleinigen Training der SV-Kata des Kodokan Judo wird man sich kaum auf SV-Situationen vorbereiten können und erst recht nicht gegen ausgebildete Vertreter anderer Disziplinen. Das ist der Kern und Hintergrund meiner Aussage.
Den Fußtritt eines Laien mag man noch „fangen“ können, den Mae-geri eines guten Karateka sicherlich kaum.
Oder man macht den Fauststoß/Fußtritt auch in der Kata vernünftig.
Es ist halt mehr, als nur eine harmonische Partnerübung zum Bestehen einer Prüfung oder für den
Kata-Wettkampf. Uke sollte ernsthaft treten und schlagen wollen,
d.h. leider auch, daß mal etwas "durchkommt",
Pech für Tori, aber Schmerz ist in der Regel ein sehr guter Lehrmeister ;-) Der Uke sollte auch öfters mal
gewechselt werden...
(Natürlich sollten beide schon mit der Bewegungsabfolge vertraut sein, evt. kann etwas Schutzausrüstung
auch nicht schaden - leider habe ich den Eindruck, daß viele aber genau dann wieder mit dem SV-Kata-Training
wieder aufhören, wenn sie gerade soweit sind, daß sie beginnen könnten, mit ernsthafteren Angriffen zu arbeiten)
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Kodokan Goshin Jutsu: 2. Gruppe im Kontext der anderen Kata

Beitrag von tutor! »

Fritz hat geschrieben:
tutor! hat geschrieben:Den Fußtritt eines Laien mag man noch „fangen“ können, den Mae-geri eines guten Karateka sicherlich kaum.
Oder man macht den Fauststoß/Fußtritt auch in der Kata vernünftig.
Es ist halt mehr, als nur eine harmonische Partnerübung (...)
Der Uke sollte auch öfters mal gewechselt werden...
Vollkommen richtig! Es ist IMHO nicht nur mehr, sogar etwas vollkommen anderes als eine "harmonische Partnerübung" - zumindest während der Aktionen. Und Partnerwechsel sind (nur) ein erster Schritt zur Variation.

Dennoch schrieb ich bewusst von einem guten Karateka und davon, dass man dessen Mae-geri kaum "fangen" könne"....
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Re: Kodokan Goshin Jutsu: 2. Gruppe im Kontext der anderen Kata

Beitrag von tom herold »

Hallo Fritz, hallo Tutor,
habe das hier gelesen und stimme euch beiden zu.

Fritz, genau das war und ist doch meine Kritik - das man es eben nicht so macht wie du hier als Möglicheit beschreibst.

Tutor, ich möchte nur der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, daß Randori in etlichen Koryû durchaus beinahe den Stellenwert hatte wie im Kôdôkan Jûdô.
In der Maniwa Nen Ryû gab es sogar Randoriformen mit Waffen ...
Ich denke eher, daß Kanôs Erfolg darauf beruhte, daß er die Erkenntnisse vieler Koryû systematisierte. Das war wohl tatsächlich etwas neues ...
:D

FG
Tom
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