Shugyōsha – (Jūdō-) Übender

Hier geht es um einzelne Begriffe und deren wörtliche Übersetzung bzw. deren Bedeutung in verschiedenen Zusammenhängen.
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Reaktivator
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Shugyōsha – (Jūdō-) Übender

Beitrag von Reaktivator »

Auch wenn es als Einleitung auf den ersten Blick paradox erscheint, möchte ich zunächst einige Begriffe vorabschicken, die zwar sicherlich im Zusammenhang mit dem hier vorgestellten Begriff von Interesse sind, auf die ich aber aus Zeitgründen hier in diesem Faden absichtlich nicht eingehen möchte:
jūdōka, senshu (senshi), sensei, shihan
Vielleicht werde ich dazu zu einem späteren Zeitpunkt separate Fäden eröffnen....

Nun - worum geht es hier in diesem Beitrag überhaupt?

Wenn in Deutschland ein Kind, das sich seit einiger Zeit einen weißen Anzug anzieht und einen bunten Gürtel um den Bauch bindet, sagt, es wäre jetzt "Judoka", nickt jeder anerkennend und weiß, was gemeint ist.
Wenn in Japan ein Kind das Gleiche sagen würde, wäre ihm ungläubiges Staunen und verständnisloses Kopfschütteln sicher – denn in Japan werden Personen, die Jūdō betreiben, nicht per se als Jūdōka bezeichnet – erst recht nicht Kinder.

Der gebräuchlichste Begriff für jemanden, der Jūdō betreibt, ist vielmehr das hier vorgestellte Wort Shugyōsha – und zwar in Kombination mit dem Wort Jūdō:
Jūdō no Shugyōsha – am ehesten vielleicht zu übersetzen als "Jūdō-Übender"

Das Wort Shugyōsha besteht aus drei Schriftzeichen, die folgende Grundbedeutung haben:
1) shu (修) – Meistens lang (shū), in diesem speziellen Fall aber kurz (shu) gesprochen, heißt in der Grundbedeutung "studieren" oder "beherrschen".
2) gyō (行) – Grundbedeutung des Schriftzeichens ist eigentlich "gehen" (iku) oder "durchführen; handeln" (okonau); mit der speziellen Lesung gyō steht es im Buddhismus für "Askese" oder eine der buddh. Gestalten (frühbuddh. Titel).
3) sha (者) – Person
Wörtlich also eine "Person, die shugyō macht"

Der Begriff shugyō stammt ursprünglich aus dem Buddhismus und bezeichnet eine asketische Übung, die durchaus auch mit einer anstrengenden körperlichen Tätigkeit verbunden sein kann (auch zum Zweck der Kasteiung, d.h. also kein reines Fasten und Meditieren).
Später wurde der Begriff auch in andere Bereiche (z.B. Budō) übernommen, bei denen es nicht nur um die Aneignung rein technischer Fertigkeiten geht, sondern um die Vervollkommnung des eigenen Ichs in einem übergeordneten Sinne.
Auch heute noch impliziert er eine geistig-spirituelle Komponente, geht also über das rein körperliche "Üben" (renshū) oder "Trainieren" (keiko) hinaus, für die es auch im Japanischen adäquate Begriffe gibt.

no (の) könnte man nach deutscher Grammatik als Genitiv-Partikel bezeichnen und mit ".... des ...." übersetzen:
Jūdō no Shugyōsha ist also ein "Shugyōsha des Jūdō", ein "Übender des Jūdō"

So hat übrigens schon früher Jigorō Kanō in zahlreichen Aufsätzen die Jūdō-Praktizierenden bezeichnet – wobei er in der Regel das allgemeine Wort sha (者) für "Personen" (allen Alters, aller Kenntnis- und Fertigkeitsstufen, etc.) verwendet hat, während heutzutage bei jüngeren Schülern und Studenten das Wort sei (生) geläufiger ist (von gakusei, 学生, "Student"), d.h. also shugyōsei.

Als Beispiel sei hier nur eine kurze Textstelle zitiert aus einem Artikel, in dem Kanō allen Jūdō-Übenden das Training von Kata empfiehlt ( ;-) ) – und wo er direkt am Anfang kurz erläutert, was genau das shugyō (also das "Üben", "Training", "Studium", "Praktizieren") des Jūdō beinhaltet:
Warum allgemein die Jūdō-Übenden (shugyōsha) Kata üben sollten
(...)
Ich erkläre immer und immer wieder, daß das Jūdō-Training (jūdō no shugyō) einerseits aus Vorlesungen und Lehrgesprächen und andererseits aus Randori und Kata besteht (...).
(KANŌ Jigorō: Ippan no shugyōsha ni kata no renshū o susumeru, in: Yūkō no katsudō, Jahrgang 7, Ausgabe 11, Nov. 1921. Zitiert in: Kōdōkan (Hg.): Kanō Jigorō taikei, Band 2. Tōkyō: Hon no Tomosha 1988: 244-249; aus dem Japanischen übersetzt von "Reaktivator")
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Jupp
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Re: Shugyōsha – (Jūdō-) Übender

Beitrag von Jupp »

Hallo reaktivator,
großen Dank für diesen Artikel.
Das ist genau das, was ich mir von einem Forum erwarte:
-sachliche Information
-Einbringen der eigenen, speziellen (fast einzigartigen) Kompetenz (wenigstens in diesem Forum)
-neuer Erkenntniswert (wenigstens für mich)
-nachprüfbare Quellenangabe

Super, mehr davon!

Jupp
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Fritz
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Re: Shugyōsha – (Jūdō-) Übender

Beitrag von Fritz »

Reaktivator hat geschrieben:denn in Japan werden Personen, die Jūdō betreiben, nicht per se als Jūdōka bezeichnet – erst recht nicht Kinder.
Wobei hier natürlich die Frage zwangsläufig im Raum steht:
Wann wird jemand als Jūdōka bezeichnet bzw. was bedeutet Jūdōka denn nun tatsächlich?
Mit freundlichem Gruß

Fritz
yamamoto

Re: Shugyōsha – (Jūdō-) Übender

Beitrag von yamamoto »

@Fritz:
Das Anhängsel "-ka" (家) bezeichnet einen Experten, wobei das nicht im Sinne eines lizensierten oder Experten mit einem akademischen Grad zu verstehen sein muß. Es gibt feststehende Begriffe, wie z.B. "Seijika" (政治家), also ein "Experte in Politik", sprich ein Politiker.

Wadoku.de gibt für das Suffix -ka folgende Übersetzung:
{Gramm.} Suffix {n} für eine Person, die eine bestimmte Tätigkeit od. einen Beruf ausübt
Als Jûdôka gilt jemand, der sich schon eine Weile damit beschäftigt und ernsthaft betreibt. Also ist der Begriff für fortgeschrittene Jûdôka durchaus anwendbar. Wenngleich er nicht sooo geläufig ist.


Der Begriff "Shugyôsha" ist mittlerweile veraltet, kein Mensch verwendet diesen Begriff in Japan. Schon aufgrund der Assoziation mit der "Musha Shugyô", der Wanderjahre des jungen Samurai. Gerade bei Kindern wird der Begriff "Senshu" (選手) verwendet, was soviel wie "Athlet" bedeutet, da Budô in Japan zunächst (und vor allem im Kinder- und Jugendbereich) nur die Wettkampfteilnahme vorsieht.
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Fritz
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Re: Shugyōsha – (Jūdō-) Übender

Beitrag von Fritz »

@Yamamoto: Danke, das sind ein sehr wissenswerte Erläuterungen.
Mit freundlichem Gruß

Fritz
Reaktivator
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Re: Shugyōsha – (Jūdō-) Übender

Beitrag von Reaktivator »

yamamoto hat geschrieben:Der Begriff "Shugyôsha" ist mittlerweile veraltet, kein Mensch verwendet diesen Begriff in Japan.
"veraltet" ist relativ - und "kein Mensch" kann man wohl auch nicht unbedingt sagen, denn:

Der Begriff taucht heute – im Jahr 2008 – z.B. schon direkt auf der Eingangsseite der Kōdōkan-Homepage auf (mittlere Spalte, 7. Punkt von oben):
海外からの修行者の方へ
(http://www.kodokan.org/index_j.html, Stand 31.10.2008; Hervorhebung durch "Reaktivator")

Auf der entsprechenden englischen Seite steht übrigens:
To the trainees from abroad
(http://www.kodokan.org/index.html, Stand 31.10.2008)

Zugegebenmaßen ist der Ausdruck mehr schriftsprachlich - aber wird zumindest in Jūdô-Kreisen sehr wohl verwendet, auch in der abgewandelten Form Shugyōsei 修行生 (s.o.!).

Umgangssprachlich verwendet man übrigens i.d.R. überhaupt kein Substantiv sondern spricht von Jūdō o yaru (柔道をやる), wörtl.: "Jūdō machen".
Jūdō o yatte-(i)ru hito (柔道をやって(い)る人) wäre also "jemand, der Jūdō macht" - und entspricht damit dem förmlicheren Shugyōsha (修行者).

Wie bereits am Anfang meines Eingangspostings geschrieben, werde ich mich zu den Begriffen Jūdōka und Senshu (Senshi) demnächst einmal etwas ausführlicher in einem neuen Faden äußern.
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yamamoto

Re: Shugyōsha – (Jūdō-) Übender

Beitrag von yamamoto »

"veraltet" ist relativ - und "kein Mensch" kann man wohl auch nicht unbedingt sagen, denn:

Der Begriff taucht heute – im Jahr 2008 – z.B. schon direkt auf der Eingangsseite der Kōdōkan-Homepage auf (mittlere Spalte, 7. Punkt von oben):
Bedeutet aber auch zwangsläufig nicht, daß er allgemein benutzt wird :D

Nichts für Ungut...
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