Vielleicht hilft der nachfolgende - relativ lange Beitrag - einige der in diesem Faden angesprochenen Probleme zu klären. Möglicherweise wird daran auch deutlich, dass es im Bereich des Judo in den vergangenen Jahren (möglicherweise ja schon vor Geburt des einen oder anderen Users hier) schon Überlegungen zur Systematik (Ordnung, Struktur, Reihenfolge) und Methodik (zielgruppenorientierte Vermittlung von Inhalten) gegeben hat.
Ich bitte, die nachfolgenden Überlegungen keinesfalls als endgültig oder abgeschlossen zu betrachten.
Ne-waza – das weite Feld des Bodenkampfes
1. Begriffsklärungen
1.1 Was sind Grifftechniken im Judo und welche Funktion haben sie?
Vor allem die Bodentechniken zeichnen sich durch großen Variantenreichtum und nahezu unbeschränkte Angriffsmöglichkeiten aus. In den sechziger Jahren hatte es sich eingebürgert, jede nur denkbare Variante mit einem eigenen japanischen Namen zu bezeichnen, wobei nicht immer klar war, ob ähnliche Namen auch ähnliche Techniken beschrieben.
Ansätze zu einer Systematisierung der Katame-waza haben daher nicht nur die Absicht, die Techniken in einen methodischen Zusammenhang zu bringen, um sie einfacher oder sinnvoller zu unterrichten, sondern vor allem die ausufernden Bezeichnungen der einzelnen Technikvarianten zu reduzieren, um sie auch für Anfänger wieder verständlich zu machen. Katame-waza kann man übersetzen mit Kontroll-Techniken (katame = „kontrollieren, unbeweglich machen“; eine vollständige, weltweit einheitlich anerkannte Systematisierung der Griff- bzw. Kontrolltechniken (ähnlich der Gokyo bei den Wurftechniken) gibt es bisher nicht.
Ziel des Judo-Bodenkampf ist es, die Kontrolle über den Gegner zu erreichen und sich gleichzeitig der Kontrolle durch den Gegner zu entziehen.
Im modernen Judokampf sind drei verschiedenen Möglichkeiten gestattet, Kontrolle am Boden mit Hilfe von Kontrolltechniken (Katame-waza) zu demonstrieren:
- Osae-komi-waza (Haltegriffe) mit der Idee, den Gegner regelgerecht festzuhalten (im Wettkampf benötigt man 25 Sekunden für einen Ippon)
- Kansetsu-waza (Hebeltechniken) mit der Idee, den Arm des Gegner am Ellenbogengelenk zu überstrecken oder zu verdrehen und ihn dadurch zur Aufgabe zu zwingen
- Shime-waza (Würgetechniken) durch einen Würgegriff zur Aufgabe (oder zur Ohnmacht) zu zwingen.
Die Wettkampfregeln im Judo erlauben Katame-waza im Stand und am Boden, wobei direkt im Stand nur Armhebel und Würgegriffe wirksam werden können. Wenn man über Systematisierungen von Katame-waza spricht, muss man vorher präzise unterscheiden, was man alles zu diesem Bereich rechnen will. So ist die Diskussion nicht eindeutig entschieden, wann eine Grifftechnik beginnt und wann sie endet.
Eine
(enge) Sichtweise beschreibt ausschließlich die Aktion, die im sportlichen Vergleich mit Ippon (vollem Punkt) bewertet wird, also die Position oder Lage, wo der Kampfrichter „Osae-komi“ (Haltegriff zählt!) ansagt oder in der ein Armhebel oder Würgegriff wirksam wird. In der Sportwissenschaft hat sich für diesen entscheidenden Augenblick der Technik der Begriff der „Hauptfunktion“ (oder „Hauptfunktionsphase“ nach Ulrich Göhner) festgesetzt (vgl. dazu auch Matthias Schierz „Judo-Praxis“, Programme-Übungen-Lernhilfen, Reinbek 1989, S. 54 ff).
Die andere
(weite) Sichtweise beschreibt Grifftechniken von dem Moment an, wo sie situativ sinnvoll angesetzt werden können (Ausgangssituation) bis zu dem Augenblick, wo sie in einer Endposition (Hauptfunktionsphase) wirksam werden.
Aus heutiger Sicht kann man daher bei allen Judotechniken drei bestimmende Aspekte analysieren:
1. Ausgangssituation
2. Annäherungen durch Zwischenbewegungen
3. Technikausführung
2. Teilaspekte der Katame-waza
2.1 Ausgangssituation
Die Ausgangssituation ist eine durch einen Bewegungsfehler von Uke oder durch geschicktes Verhalten von Tori geschaffene Konstellation der beiden Kontrahenten, die für die Ausführung einer bestimmten Technik günstig erscheint.
Das Hauptproblem besteht darin, dass Tori diese Situation nicht nur möglichst schnell als günstig erkennt, sondern quasi gleichzeitig für seinen Technikansatz zu nutzen beginnt.
2.2 Annäherung durch Zwischenbewegungen
Um nun von der Ausgangssituation - also einer bestimmten Konstellation der beiden Übenden zueinander - in eine (End-) Position zu gelangen, in der die Ausführung der Judotechnik ermöglicht wird, muss Tori bestimmte Zwischenbewegungen durchführen (drehen, wenden, überrollen, belasten, schneiden usw.).
Zumeist besteht die Aufgabe dieser Zwischenbewegungen darin, Uke in seinen Bewegungsmöglichkeiten einzuschränken (vor allem am Boden) und/oder engeren Körperkontakt herzustellen. Je größer der dabei zurückzulegende Weg ist und je länger er dauert, um so größer sind die Verteidigungschancen für Uke.
Ideal ist es also, eine Ausgangssituation zu haben, die nur sehr wenige, kleine Bewegungen in einer kurzen Zeitspanne erfordert, um die für die Technikausführung notwendige Kontrolle und Endposition zu ermöglichen.
2.3 Technikausführung in der Endposition
Die Endposition ist bei Haltegriffen sehr gut definiert. Sie stimmt überein mit der Position, die Tori gegenüber Uke einnehmen muss, damit der Kampfrichter „Osae-komi!“ (ab jetzt zählt die Haltegriffzeit) ansagt. Bei Armhebeln und Würgegriffen ist sie in dem Augenblick erreicht, wo der jeweilige Griff die endgültige Ausführung der Technik ermöglicht, also das Überstrecken oder Verdrehen des Ellenbogengelenks bei Armhebeln oder das Abschnüren der Luft- bzw. Blutzufuhr bei Würgegriffen.
Die verschiedenen Ansätze zu einer Systematisierung der Grifftechniken unterscheiden sich nicht nur durch Anzahl der definierten Techniken und Gruppierung nach gemeinsamen Merkmalen, sondern vor allem durch das zugrunde liegende Technikverständnis. Insbesondere dadurch wie weit von der Endposition der Technik zurück gesehen, vorbereitende Zwischenbewegungen oder sogar günstige Ausgangssituationen mit beschrieben werden, also durch eine eher enge oder weitere Sichtweise der Techniken.
Die Frage bei der Beschreibung der Techniken ist bei der engen Sichtweise nur, „Wie mache ich mit dieser Technik einen Ippon?“ Bei einer erweiterten Sichtweise kommen dann noch Fragen hinzu wie „Was muss ich tun, um in die Endposition zu gelangen?“ und/oder „ Was ist ein günstiger Moment, um mit den Vorbereitungen für meine beabsichtigte Technik zu beginnen?“ Unterschiedliche Sichtweisen (Perspektiven) bedingen dann natürlich auch unterschiedliche Systematisierungen, je nachdem was der Autor zu wesentlich hält.
3. Nach welchen Kriterien (Maßstäben) kann man Grifftechniken systematisieren?
Nach Studium der Fachliteratur erscheinen mir folgende fünf Gliederungskriterien bei den verschiedenen Ansätzen Verwendung gefunden zu haben. Nur einige der Autoren haben das Kriterium, nach dem sie ihre Grifftechnik ordneten auch ausdrücklich genannt. Bei anderen musste der Gliederungsgesichtspunkt erst aus den Gliederung rückschauend ermittelt werden.
1. Stand- oder Bodenkampf: Grifftechniken können im Stand und am Boden angesetzt werden. Werden sie im Standkampf angesetzt, so muss ihre Wirkung sofort einsetzen oder aber im Übergang zum Boden erkennbar und in der Bodenlage sofort erreicht werden.
2. Kontrollprinzip: Grifftechniken können als Haltegriffe, Armhebel oder Würgegriffe wirksam werden. Bei den Osae-komi-waza (Haltegriffen) kann man die Prinzipien Kesa (als sogenannter 3-Punkt-Haltegriff) und Shiho (als sogenannter 4-Punkt-Haltegriff) unterscheiden. Bei den Kansetsu-waza (Armhebeln) wird zwischen Ude-hishigi (Armstreckhebebel) und Garami (Armbeugehebel) allgemein unterschieden und bei den Shime-waza (Würgegriffe) nach der Stellung der Partner zueinander, also z.B. von vorne mit Juji-jime (Angesicht zu Angesicht) oder von hinten mit Eri-jime.
3. Die Stellung zum Partner in dem Augenblick, wo der Griff angesetzt wird.
4. Bewegungsverwandtschaft bei der Ausführung der Technik.
5. Anwendungsmöglichkeit zur Lösung der Grundsituationen des Bodenkampfes.
4. Die Systematisierung des Kodokan
Auf seiner Homepage (
http://www.kodokan.org) unterscheidet der Kodokan
o Osae-komi-waza (7 Techniken)
o Shime-waza (12 Techniken) und
o Kansetzu-waza (10 Techniken).
Diese werden in dem Buch „Kodokan-Judo“ (vgl. Lit. 16) ausschließlich mit nur einem Foto statisch als Endposition vorgestellt und beschrieben, also ohne Ausgangssituation und vorbereitende Bewegungen, jedoch mit Varianten zum jeweils verwendeten Namen.
Der Kodokan benutzt den formellen Namen „Kuzure-kesa-gatame“ anstatt den üblicherweise verwendeten „Makura-kesa-gatame“ oder „Ushiro-kesa-gatame“ (
http://www.kodokan.org).
Weiter wird ausgeführt, dass „Kesa“ und „Kami-shiho“ die einzigen Techniken sind, die „Kuzure“ vorangestellt bekommen. Es gibt kein Kuzure für die anderen Haltegriffe(
http://www.kodokan.org).
Außerdem weist der Kodokan darauf hin, dass er sich nicht damit begnügt, Juji-gatame oder Ude-gatame zu sagen, sondern es bevorzugt, von „Ude-hishigi-juji-gatame“ und „Ude-hishigi-ude-gatame“ zu sprechen.
7 Osae-komi-waza:
1. Hon-kesa-gatame
2. Kuzure-kesa-gatame
3. Kata-gatame
4. Kami-shiho-gatame
5. Kuzure-kami-shiho-gatame
6. Yoko-shiho-gatame
7. Tate-shiho-gatame
11 Shime-waza
1. Nami-juji-jime
2. Gyaku-juji-jime
3. Kata-juji-jime
4. Hadaka-jime
5. Okuri-eri-jime
6. Kata-ha-jime
7. Sode-guruma-jime
8. Kata-te-jime
9. Ryo-te-jime
10. Tsukkomi-jime
11. Sankaku-jime
12. (Do-jime*)
9 Kansetsu-waza
1. Ude-garami
2. Ude-hishigi-juji-gatame
3. Ude-hishigi-ude-gatame
4. Ude-hishigi-hiza-gatame
5. Ude-hishigi-waki-gatame
6. Ude-hishigi-hara-gatame
7. Ude-hishigi-ashi-gatame
8. Ude-hishigi-te-gatame
9. Ude-hishigi-sankaku-gatame
10. (Ashi-garami*)
* = in Randori und Wettkampf verbotene Griffe
4.1 Beurteilung dieser Systematisierung des Kodokan
Die Haltegriffe des Kodokan werden alle ausschließlich in ihrer Endposition vorgeführt, also in der Stellung, in der „Osae-komi“ angesagt würde. Die sieben verschiedenen Haltegriffe werden in verschiedenen Varianten vorgestellt (vgl. Kodokan Judo Jigoro Kano, Tokyo 1986, S.110 ff) und beschrieben. Nach den Haltegriffen werden 11 Würgegriffe vorgestellt und zum Abschluss 9 Armhebel.
Warum die Techniken in dieser Reihenfolge präsentiert werden und gerade diese Varianten ausgewählt wurden und warum Angaben über Anwendungssituationen fehlen, wird nicht näher begründet.
Es handelt sich um eine reine Stoffsammlung ohne jeden systematisch/methodischen Anspruch.
5. Die Systematisierung der Grifftechniken bei Hofmann
Ähnlich wie Geesink versuchte auch Wolfgang Hofmann 1969 die Nachteile des Kawaishi-Systems durch Zusammenfassung von Techniken ähnlicher Bewegungsstruktur auszuschalten. Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren die Haltegriffe: „Die drei Gebiete des Bodenkampfes stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander; bevor man den Partner hebeln oder würgen kann, muss man ihn unter Kontrolle haben, muss man ihn festhalten. Ein kontinuierlicher Fortschritt im Bodenkampf geht nur über das Studium der Haltegriffe“ Weiter folgerte er dann im Anschluss an die Kritik des Systems Kawaishi: „da aber jeder Griff aus ganz verschiedenen Lagen angesetzt werden kann, ohne eigentlich ein neuer Griff zu sein, ist eine Systematisierung, die davon ausgeht, welches Prinzip gültig ist, auch sinnvoll.“ (Hofmann, 1969, S. 149)
„Bei der Vorstellung werden die Griffe, die nur das Hauptmerkmal variieren, zu einer Gruppe zusammen-gefasst und bis auf einige markante Spitznamen einheitlich als Variation (Kuzure) der Grundtechnik bezeichnet, ohne die jeweilige Variation auch im Namen zum Ausdruck zu bringen“ (Hofmann, 1969, S. 150) Hofmann systematisierte folgendermaßen:
Fünf Grundhaltegriffe
1. Kesa-gatame
• Kuzure-kesa-gatame
• Gyaku-kesa-gatame
• Makura-kesa-gatame
2. Kata-gatame
• Kuzure-kata-gatame
3. Yoko-shiho-gatame
• Kuzure-yoko-shiho
• Kata-osae-gatame
4. Kami-shiho-gatame
• Kuzure-kami-shiho
• Ura-shiho-gatame
• Kami-sankaku-gatame
5. Tate-shiho-gatame
• Kuzure-tate-shiho
• Tate-sankaku-gatame
sieben Armhebel:
1. Ude-garami
• Gyaku-ude-garami
2. Ude-gatame
3. Kannuki-gatame
4. Hiza-gatame
5. Waki-gatame
6. Hara-gatame
7. Juji-gatame
sieben Würgegriffe:
1. Juji-jime
2. Okuri-eri-jime
3. Hadaka-jime
4. Ryo-te-jime
5. Kata-te-jime
6. Ashi-jime
7. Kata-ha-jime
Bei den Haltegriffen unterscheidet Hofmann zwischen Kesa („Schräg mit der Seite halten und von den vier möglichen Punkten – zwei Schultern, zwei Hüften – nur drei fixieren“) und Shiho („Von oben mit der Brust halten und vier Punkte = Shiho fixieren“). Bei den Armhebeln unterscheidet er nach der Mechanik Beuge- und Streckhebel als zwei große Gruppen, aber im weiteren auch danach, welcher Körperteil hauptsächlich den Hebel verursacht. So erhält er „sieben verschiedene Gruppen von Armhebeln, die mit ihren Variationen zwar die 24 Armhebel des Systems Kawaishi umfassen, ohne jedoch durch eine zu ausführliche Namensgebung zu verwirren“ (Hofmann, 1969, S. 184)
„Bei der Klassifizierung der Würgegriffe berücksichtigt man die Wirkungsweise der Hände, den Einsatz der Beine und wie der gegnerische Körper unter Kontrolle gebracht wird.“ (Hofmann, 1969, S. 200)
4.1 Beurteilung dieser Systematisierung von Wolfgang Hofmann
Die von Wolfgang Hofmann entwickelte Aufteilung der Grifftechniken lag der früheren DJB-Prüfungsordnung (1970 bis 1991) zu Grunde (vgl. Judo Heft 1/1971, S.14/15). Der Irrtum, diese „Hofmannsche-Systematik“ dem Kodokan zuzuschreiben – was auch heute noch häufig passiert (vgl. Budoka 4/2001, S. 29) - beruht auf dem gleichen Denkfehler wie die Go-kyo mit einer Ausbildungs-Vorschrift gleichzusetzen.
Ursache dafür war, dass man Anfang der siebziger Jahre den fünf Stufen der Go-kyo fünf Gürtelfarben zuordnete, von gelb für die 1. Stufe bis braun für die 5. Stufe. Ein Verfahren, dass es in Japan weder beim Kodokan noch sonst irgendwo gibt.
Um den Bodenkampf „prüfungstauglich“ zu machen verteilte man die „Hofmannsche-Boden-Systematisierung“ auf die fünf Gürtelstufen. Auf Lehrtafeln wurden nun diese beiden Prüfungsbereiche Boden und Stand dargestellt, parallel in fünf Stufen, jeweils umrahmt von den Gürtelfarben gelb bis braun. Die Standtechniken auf diesen Gesamt-Übersichten demonstrierten Wolfgang Hofmann und Mahito Ohgo (als Auszüge aus Hofmanns Buch), die Bodentechniken demonstrierten Takehide Nakatani, der japanischen Olympiasieger –70 kg von 1964, der damals als DJB-Bundestrainer arbeitete und Miroslaw Ralenowski, ein junger tschechischer Leichtgewichtler, der zu dieser Zeit in Hofmanns Judoschule in Köln („Bushido“) als Judolehrer unterrichtete. Hofmann hatte also zwei Lehrtafeln entwickelt, mit der Absicht, den Prüfungsstoff übersichtlich darzustellen. Aus der parallelen Darstellung dieser fünf Gürtelstufen wurde die Missinterpretation von fünf Lehrstufen, die wiederum mit der Go-kyo assoziiert wurden (werden?).
Hofmanns Systematik wurde lange Jahre als Grundlage der Lehrarbeit in der Bundesrepublik Deutschland angesehen. Erst mit der Einführung der neuen Ausbildungs- und Prüfungsordnung 1992 änderte sich dies und eine andere Systematisierung (die von den Ausgangssituationen her ausgeht) wurde eingeführt.
Hofmanns Verdienst bestand 1970 darin, die künstliche Trennung eng bewegungsverwandter Techniken im Lernprozess aufgehoben zu haben. Der für die Verbreitung des Judo – vor allem im Kinderbereich – hinderliche Begriffswirrwarr konnte eingeschränkt werden und nur die japanischen Namen, die eine Grundidee bezeichneten wurden beibehalten, ohne die Vielzahl der möglichen Varianten einzuschränken. Somit wurde das Erlernen bewegungsverwandter Techniken erleichtert. Die zahlreichen unterschiedlichen Anwendungssituationen des Systems Kawaishi beschränkte Hofmann ebenfalls auf einige wenige, die jedoch im sportlichen Kampf häufig auftraten.
5. Didaktische sowie systematisch-methodische Überlegungen zur Vermittlung des Bodenkampfs im Zusammenhang mit der Kyu-Prüfungsordnung von 1995
In den offiziellen DJB-Lehrbüchern „Judo lernen“ (Bonn 1996) und „Judo anwenden“ (Bonn 1997) hat der Autor Ulrich Klocke für den Bereich der Grifftechniken folgende didaktischen Überlegungen angestellt (Judo lernen, 1996, S.
:
a) Alle Judotechniken werden nicht als Selbstzweck vermittelt, sondern sie sollen Kampfsituationen lösen helfen.
b) Judo wird als ein kämpferisches Spiel von Aktion und Reaktion zwischen Uke und Tori verstanden.
c) Frühzeitig werden grundlegende technische Prinzipien (d.h. nicht nur konkrete Techniken) vermittelt.
d) Bodentechniken sollen von Beginn an Bodensituationen lösen helfen.
Unter dem Stichwort: „Tipps zum Bodenprogramm“ (Judo lernen, 2007, S. 19): werden folgende systematisch-methodischen Hinweise gegeben:
a) Bevor man Haltegriffe unterrichtet, muss den Übenden zunächst klar gemacht werden, was im Judo ein Haltegriff ist (lt. Regelwerk)
b) Auch Haltegriffe sollten beidseitig geübt werden – so werden sie häufig besser verstanden.
c) Ist die richtige Griffhaltung bekannt, sollen die Situationen geübt werden, aus denen man Haltegriffe entwickeln kann (z.B. Kniestand, Bankposition, Bauchlage, Übergang vom Stand zum Boden).
d) Bodenkampf sollte immer in den Situationen beginnen, aus denen man gelernt hat, Haltegriffe zu entwickeln. Die Situation „Rücken an Rücken“ sollte möglichst wenig praktiziert werden (oder nur als Übungsform im Anfängerbereich), da sie im sportlichen Wettkampf nicht erscheint.
e) Zu jedem unterrichteten Haltegriff sollten mindestens zwei (besser drei!) Befreiungen gezeigt werden, damit „Chancengleichheit“ besteht. Halten ist leichter als sich befreien!
f) Die Befreiungstechniken sollten sich ergänzen, d.h. sie sollten so abgestimmt sein, dass eine Verteidigung auf die erste Befreiung eine gute Voraussetzung für die zweite Befreiung ist bzw. umgekehrt.
g) Befreiungen sollten mit einem eigenen Haltegriff beendet werden, wenn dies sich als möglich und sinnvoll erweist.
Sobald sich bei Uke die Sicherheit im Fallen verstärkt, sollten möglichst alle Haltegriffe aus dem Übergang Stand-Boden entwickelt werden (Judo lernen, 2007, 45). Damit kommt zum Ausdruck, dass – auf der Grundlage des Judo als Sportart – sich Wurftechniken und Grifftechniken sowohl im sportlichen Wettkampf als auch im Unterricht systematisch und methodisch eigentlich nicht mehr strikt trennen lassen. Grifftechniken entwickeln sich im sportlichen Judo ausschließlich aus dem Standkampf heraus und sollten so auch eingeführt, geübt und trainiert werden. Dieser Gedanke betont die Notwendigkeit eines systematischen Zusammenhangs zwischen Ausgangssituation und sich daraus ergebender Grifftechnik. Auch Bodentechniken erhalten ihren Sinn vor allem aus ihrem wirkungsvollen Beitrag zur Lösung einer judosportlichen (Kampf-)Situation, zur Lösung der sportlichen Bewegungsaufgabe des Judo, dem Erzielen des Ippon.
6. Welche Positionen oder Rollen lassen sich für den Judo-Bodenkampf feststellen?
Grundsätzlich kann man im Judo-Bodenkampf die Rollen der beiden Partner nach verschiedenen Gesichtspunkten unterscheiden.
• Neben der klassischen Einteilung nach Tori (toreru= greifen, ergreifen; derjenige, der angreift) und Uke (ukeru= dulden, erleiden; derjenige, der angegriffen wird) kann man
• nach der jeweiligen Lage einen Ober- und einen Untermann unterscheiden. Sowohl als Ober- als auch als Untermann kann man Uke und Tori sein, also angreifen und angegriffen werden.
Während man als Obermann den allgemeinen Vorteil hat, sein Gewicht mit einsetzen zu können, kann man als Untermann (wenigstens in Rückenlage) Hände und Füße zugleich als "Waffen" benutzen.
7. Welche Bodenkampf-Situationen kann man unterscheiden?
Neben den unterschiedlichen Rollen und Positionen ist es wichtig zu wissen, dass man beim Bodenkampf verschiedene Situationen unterscheiden kann, die in fast jedem Kampf und Bodenrandori wiederkehren. Ich unterscheide:
• den Übergang vom Stand zum Boden infolge eines Wurfes, einer Grifftechnik oder Hikkomi-waza
• die Bank- Bauchlage des Untermanns, wobei der Obermann sich vor dem Kopf, an der Seite oder auf dem Rücken des Untermanns befindet
• die Rückenlage des Untermanns, wobei der Obermann sich vor den Beinen, zwischen den Beinen oder an der Seite des Untermanns befindet, ohne einen Haltegriff angesetzt zu haben.
Wie man sich in den verschiedenen Situationen des Bodenkampfes richtig verhält, hängt von zahlreichen objektiven und subjektiven Faktoren und Einschätzungen durch die Kämpfer ab.
Das situativ richtige Verhalten (in einem Wettkampf oder Randori) hängt ab von:
• dem technischen Können und der taktischen Erfahrung der beiden Kämpfer
• dem konditionellen Zustand beider Kämpfer
• dem augenblicklichen Kampfergebnis
• der subjektiven Einschätzung der augenblicklichen Siegchancen durch die Kämpfer
• der allgemeinen psychischen Verfassung der Kämpfer
• der augenblicklichen psychischen Verfassung der Kämpfer
Auf der Grundlage dieser Überlegungen lassen sich sowohl im Judo-Unterricht der Kinder und Jugendlichen als auch im Training der Wettkampf- und Leistungssportler zahllose Übungsformen, zielgerichtete Aufgabenstellungen und Randoriformen entwickeln, die einerseits ein abwechslungsreiches Lehrprogramm ermöglichen, den Lernenden jedoch zugleich die Chancen eröffnen Bodenkampf so zu erlernen, dass die Anwendung der Judotechniken in Kampfsituationen auch gegen den Widerstand des Trainingspartners erfolgreich gestaltet werden kann.
8. Literatur, die für diesen Artikel verwendet und zu diesem Thema zum Studium empfohlen wird:
- Wolfgang Hofmann: Judo, Grundlagen des Stand und Bodenkampfes, Niedernhausen 1969
- Jigoro Kano u.a.: Kodokan-Judo, Bonn 2007 (hrsgb. unter Aufsicht des Kodokan Redaktions-ausschusses
- Masahiko Kimura: Judo für Anfänger und Kämpfer, Müchen1977
- Ulrich Klocke: Judo anwenden, Bonn 2007
- Kazuzo Kudo, Judo Praxis, Frankfurt/Main 1973
- Lehmann/Müller-Deck: Judo, Ein Lehrbuch für Trainer, Übungsleiter und Aktive, Berlin 1987
- Isao Okano: Vital Judo, Boden-Techniken, Wetzlar1976
- Matthias Schierz: Judo Praxis, Reinbeck 1989
Jupp
(September 2008, überarbeitet Januar 2012)