Judogi und Entwicklung der Wettkampfregeln

Hier geht es um die Wettkampforganisation und um Fragen zu den Wettkampfregeln
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tutor!
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Judogi und Entwicklung der Wettkampfregeln

Beitrag von tutor! »

Die häufigen Änderungen bzw. Erweiterung der Wettkampfregeln werden ja oft kritisiert, dabei aber meist übersehen, dass es stets Entwicklungen sind, denen durch Anpassung der Wettkampfregeln entgegengesetuert werden muss. Ich will das im Folgenden einmal an der Entwicklung der Judogi in den letzten Jahrzehnten darstellen, möchte aber gleichzeitig betonen, dass ich mich bewusst auf diesen Bereich beschränken möchte, ich bei anderen Problemen andere Steuerungsmechanismen wünschen würde und ich die öffentlichen Erklärungen der Regeländerungen oft ebenfalls unglücklich finde.

Judogi in den 1960er und 1970er Jahren

Zur damaligen Zeit gab es praktisch nur Einheitsware. Es gab mit Sport-Rhode (später im Markennamen DanRho aufgegangen) einen Hersteller in Deutschland, dazu noch ein paar Importeure (Matsuru, Rucanor). Die Anzüge waren aus vergleichweise sehr dünnem Material gefertigt, so dass sie weniger als 1 kg (inkl. Jacke, Hose und Gürtel) wogen. Beim Aufräumen habe ich einige alte Jacken vor kurzen noch gefunden und war erschrocken darüber.

Die Ärmel mussten die Hälfte des Unterarms bedecken und brauchten nur wenige Zentimeter Luft zwischen Unterarm und Stoff lassen. Dies spielte aber in der Praxis keine Rolle, weil niemand einen solchen Anzug trug.

Rückennähte gab es damals nur ganz selten, und wenn, dann nur mit sehr schmaler Überlappung. Die Revers waren sehr dünn und die Anzüge waren im Brustbereich weit geschnitten. Spezielle größen wie "slim" oder "weit" gab es nicht, genauso wenig wie Zwischengrößen. Man hatte die Wahl zwischen 160, 170, 180, 190 und 200. Das war es dann auch schon.

Probleme mit dem Greifen gab es von daher nicht. Es war immer genügend Stoff vorhanden....

Modifikationen von Kämpfern

Irgendwann begannen die Kämpfer - bzw. ihr "Umfeld" - die Judogi zu verändern. Die Anzugmodelle wurden enger geschnitten, Zwischengrößen eingeführt und wenn das nicht reichte, zum Schneider gebracht. Zu Beginn der 1980er Jahre wurde in Deutschland eine Regel eingeführt, die das nachträgliche Verändern eines Anzugs bestrafte. Genützt hat das nur wenig....

Entwicklung des Marktes für Judogi - und die Veränderung der Anzüge

Ungefähr in den 1990er Jahren entwickelte sich der Markt für Judogi in die Richtung, dass große Firmen, die Judo bis dahin nicht beachtet hatten, in den Wettbewerb einstiegen. Bis dahin gab es kaum ein Markenbewusstsein - heute sieht das ja anders aus. Der Wettbewerb brachte im Bereich der Wettkampfanzüge vor allem eines: Immer neue Ideen, wie man das Greifen des Gegner erschweren könnte. Hierzu wurden unter anderem:
  • die Anzüge immer enger an den Körper geschnitten (Zwischengrößen, Slim-Größen etc.)
  • Verstärkungen in Brust und Schulterbereich eingearbeitet
  • Schulterklappen hinzugefügt
  • die Nähte so platziert, dass sie zusätzlich eine verstärkende Wirkung hatten
  • die Revers immer dicker und breiter gemacht
  • die Rückennähte immer stärker überlappend gemacht
Folgen für die Anwendung von Techniken

Die Folgen dieser Anzugmodifikationen waren dramatisch. Greifen am Revers war extrem erschwert. Hinzu kam, dass das Lösen des Griffes zentraler Trainingsinhalt für viele wurde. Man war gezwungen andere Griffmöglichkeiten zu suchen, z.B. unter der Achsel, über dem Arm, auf dem Rücken usw. "Klassisches Judo", mit Ärmel-Kragen-Griff und aufrechtem Kampfstil - so wie von Kano immer wieder betont - wurde auf indirektem Weg unmöglich gemacht.

Gegensteuern durch zusätzliche Regelungen

Es sollte unmittelbar einsichtig sein, dass Regelungen getroffen werden müssen, die die Anwendung von Techniken wie Morote-seoi--nage und einen klassischen Kampfstil wieder ermöglichen. Dazu musste gegen die Exzesse der Judogientwicklung vorgegangen werden. Die Folge war ein umfassendes Regelwerk, dass Verstärkungen - ich rede jetzt noch nicht einmal über zusätzlich Kunststoffteile, die in Rückennähten eingearbeitet wurden - auf ein akzeptables Maß reduziert.

Diese Regeln nützen allerdings nur, wenn deren Einhaltung auch kontrolliert wird. Die Folge war das Lizenzierungssystem der IJF. Dieses bietet natürlich auch Grund zur Klage, nämlich dass die Hersteller einen jährlichen, nicht zu knappen Beitrag, dafür zahlen müssen, dass ihre Anzüge überhaupt für eine Lizenzierung zugelassen werden.

Das übersehe ich keinesfalls, jedoch muss man eindeutig feststellen, dass es durch die Aktiven und die Anzughersteller massive Fehlentwicklungen gab, denen gegengesteuert werden musste.
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Fritz
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Re: Judogi und Entwicklung der Wettkampfregeln

Beitrag von Fritz »

Ich glaube nicht, daß es bei der Lizenzierung tatsächlich um taugliche Anzüge geht...

Denn das hätte man durch konsequenten Einsatz der Meßgeräte (Meßzange oder jetzt dieses andere Ding, oder
in Augenscheinnahme durch den Kari) und entsprechende Ahndung auch gut regeln können...

Es geht wohl eher darum, am Anzugverkauf anderer zu verdienen...

Ansonsten ist es natürlich erschreckend zu sehen, wie "der Trend" mit den Jacken
sich entwickelt hatte, für mich ein Zeichen, daß hier prinzipiell was im Argen liegt,
wenn auf diese Weise versucht wird, Vorteile im Kampf herauszuschlagen.
Konsequent den Trend weitergedacht, sollten die Verwender dieser Kutten doch einfach zum
Ringen gehen, da gibt es keine Kittel, ergo auch keine Problem, daß der Gegner an einem
solchen einen Griff findet...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Uwe 23
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Re: Judogi und Entwicklung der Wettkampfregeln

Beitrag von Uwe 23 »

Am dem Beispiel sieht man auch schön, dass es wohl leider nicht klappt, mit dem was hier so oft gefordert wird: "So gut wie keine Verbote, auf der Matte regelt sich schon alles alleine und der Bessere gewinnt dann."

Leider sind auch Judoka nicht so fair, wie man es auf Grund der Philosophie erwarten könnte.
Sondern jeder sucht die kleinste Lücke, um daraus einen Vorteil zu ziehen.
Das führt leider dazu, dass sich das Regelwerk immer mehr aufbläht.

Aber das ist nicht nur ein Judoproblem, auch die Gesetze werden ja immer mehr, weil immer wieder einer eine Lücke findet, die man dann schließen muss.
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Fritz
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Re: Judogi und Entwicklung der Wettkampfregeln

Beitrag von Fritz »

Uwe 23 hat geschrieben: Das führt leider dazu, dass sich das Regelwerk immer mehr aufbläht.

Aber das ist nicht nur ein Judoproblem, auch die Gesetze werden ja immer mehr, weil immer wieder einer eine Lücke findet, die man dann schließen muss.
Und genau das ist der Irrweg...
Durch immer mehr Regeln/Gesetze wird es immer undurchsichtiger, so daß es immer mehr
Lücken und Schlupflöcher gibt und immer mehr Gelegenheit, Regeln/Gesetze so anzuwenden, daß sie schaden.

Das Problem ist, daß wir Deutschen uns angewöhnt haben, bei Vorlage einer/s Regel/Gesetze den eigenen
Verstand abzuschalten und unseren Ehrgeiz darin sehen, dafür Sorge zu tragen, daß auch ja alle die
Vorschrift befolgen. Dabei wird dann regelmäßig vergessen, was das Ziel der Vorschrift ist und unter welchen
Randbedingungen diese einen Sinn hat...
Dummerweise gibt es aber einen gewissen Menschenschlag, der es sich zur Aufgabe macht, Vorschriften dahingehend
abzuklopfen, daß man mit formaler Anwendung hübsch Schaden anrichten u. seine Mitmenschen plagen kann
(Dieses Abmahn-Unwesen ist ein gutes Beispiel)

Um beim Judo zu bleiben: Nicht ein Mehr an Regeln ist die Lösung, sondern Kampfrichter, welche die Intention
hinter den Regeln verstehen und entsprechend einen Kampf auch "lesen" können und sich auch nicht
scheuen, bewußtes Fehlverhalten zu ahnden, auch wenn es so nicht detailliert in den Regeln steht.
Das setzt natürlich eine gewisse Judoerfahrung voraus.
Bspw. diese albernen Regeln, wann jetzt wer wie einen Griff lösen darf, sind völlig überflüssig,
die übliche Passivitäts-Strafe hätte nur durch Karis konsequent angewandt zu werden brauchen
sobald erkennbar ist, daß jemand durch dauerndes Grifflösen versucht, den Kampf zu vermeiden.
Und das kann ein halbwegs erfahrener Kari durchaus erkennen.
Genauso die Beingreifverbote - war doch die Begründung, daß die Leute abgebeugt nach Beinen grapschen,
um Aktivität vorzutäuschen.
Na auch vorher konnten man für Scheinangriff bestraft werden, für Inaktivität auch - warum zog man nicht einfach
diese Register?
Und andersrum ist genauso unverständlich, wieso Kampfrichter jemanden Inaktivitätsstrafen "aufdrücken", wenn
dieser jemand ganz aktiv versucht, ernsthaften gegnerischen Angriffen standzuhalten...
Und wenn selbst Kommentatoren am Mattenrand erkennen, daß ein Kämpfer den anderen inaktiv aussehen lassen will,
und ganz stolz den Taktierer loben - warum sollte es der Kari nicht auch sehen u. entsprechend
im Sinne des Judos entscheiden können?
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Judogi und Entwicklung der Wettkampfregeln

Beitrag von JSC Mitglied »

Wie gesagt, heute ist Kumi Kata ein viel wichtigerer Bestandteil als damals. Ich finde, daß man sich weniger zur Kumi-Kata, sondern wieder mehr auf die Wurftechniken konzentrieren muss. Nur so kann wieder diesen Namen alà Jackenraufen wieder loswerden.
freundliche Grüße
JSC Mitglied

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Fritz
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Re: Judogi und Entwicklung der Wettkampfregeln

Beitrag von Fritz »

JSC Mitglied hat geschrieben:Wie gesagt, heute ist Kumi Kata ein viel wichtigerer Bestandteil als damals. Ich finde, daß man sich weniger zur Kumi-Kata, sondern wieder mehr auf die Wurftechniken konzentrieren muss. Nur so kann wieder diesen Namen alà Jackenraufen wieder loswerden.
Sagen wir so, daß Ziel des Griffkampf sollte sein, möglichst schnell zu einem ordentlichen Griff zu kommen und
nicht den anderen unbedingt an einem Griff zu hindern...
Ich hab irgendwo mal gelesen, daß dies auch einer der Unterschiede zwischen jap. und "westlicher" Judo-Praxis sei...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
tutor!
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Re: Judogi und Entwicklung der Wettkampfregeln

Beitrag von tutor! »

Ich habe ganz bewusst versucht, den Zusammenhang zwischen der Entwicklung auf Wettkämpfen und den nachfolgenden Regeländerungen an einem Beispiel festzumachen, das erst einmal nicht mit der Bewertung von Aktionen zu tun hat. Das war ganz bewusst.

Hier gab es Fehlentwicklungen, die Judo im wahrsten Sinne des Wortes kaputt gemacht haben. Und hier bestand Handlungsbedarf.

Es ist aber nun einmal so, dass ein Anzug nach objektiv feststellbaren Kriterien bewertet werden muss. Es kann und darf nicht sein, dass der eine KR einen Kämpfer mit einem Anzug kämpfen lässt, ein anderer KR aber nicht. Das muss alleine schon zum Schutz der KR so geregelt werden, denn lässt er einen Kämpfer nicht in seinem Anzug kämpfen und dieser Kämpfer verliert, dann braucht man nicht länger nach einem Sündenbock zu suchen.

Regeln müssen so abgefasst sein, dass ein KR-Gespann aus einem Chilenen, einem Inder und einem Finnen genauso wertet wie ein Cubaner, ein Koreaner und ein Neuseeländer. Andernfalls taugen die Regeln nichts. Das bedeutet, dass anstelle von "Ermessen" nach Möglichkeit klare Richtlinien geschaffen werden müssen - auch wenn es dabei natürlich Grenzen gibt.

Mit den Anzügen ist man da einen großen Schritt nach vorne gekommen. Die generelle Machart ist durch die Lizenzierung geregelt (übrigens wird die Lizenzmarke mit einer UV-Lampe kontrolliert), die Passform wird nachgemessen. Der Raum für Manipulationen auf diese Weise eingeschränkt.

Ähnlich verhält es sich mit der Bewertung von z.B. extrem defensivem Verhalten. Natürlich kann man in die Regeln schreiben, dass extrem defensives Verhalten bestraft werden soll. Natürlich kann man dem KR die Interpretation überlassen, was er alles darunter versteht. Aber das funktioniert auf Dauer nicht, denn wie sorgt man dann dafür, dass der Bolivianer dasselbe damit meint, wie der Ägypter? Die einzige Lösung des Problems ist, dass man es in die Regeln hineinschreiben muss, denn das Kampfergebnis soll von den Kämpfern abhängen und nicht davon, wie der KR die Regeln versteht.
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