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Vom Trainingsalltag zur Selbstverteidigung
- verfasst von Matthias Golinski -
Teil 2: Jûdô
Ähnlich wie das Karate (siehe Teil 1) verfügt auch das moderne Jûdô noch immer über eine Reihe effektiver Selbstverteidigungstechniken. Die einzige Schwierigkeit ist es, diese zu finden und im Trainingsalltag entsprechend umzusetzen. Als kleine Hilfestellung bei der Suche nach diesen Techniken soll der folgende Text helfen.
Würfe
Im Gegensatz zum Karate legt das Jûdô den Schwerpunkt nicht auf Schläge oder Tritttechniken, sondern auf Würfe. Dieser Umstand ist, bei richtiger Umsetzung, keinesfalls als nachteilig für die Selbstverteidigung zu sehen.
Hierbei ist allerdings die richtige Auswahl der Würfe für das Selbstverteidigungs-Training wichtig. Grundsätzlich ist einfacheren Techniken eher der Vorzug zu geben, auch wenn diese fortgeschrittene Schüler scheinbar unterfordern. Komplexe Würfe oder Wurfkombinationen bedürfen im Training übermäßig viel Zeitaufwand und funktionieren in der Selbstverteidigung häufig (vielleicht gerade deshalb?) doch nicht. Ähnlich verhält es sich mit vielen Wettkampfvariationen, welche zumeist einen vorgebildeten Jûdôka mit entsprechenden Reaktionen erfordern.
Weiterhin sind verstärkt Wurftechniken auszuwählen, die möglichst wenig Kontakt mit dem Gi erfordern. Da kaum davon ausgegangen werden kann, dass ein möglicher Aggressor zwangsläufig ein, der Gi-Jacke äquivalentes, Oberteil trägt, sollte von derartigen Techniken Abstand genommen werden.
Technikanzahl
Wie die meisten modernen japanischen Kampfkünste beinhaltet auch das Jûdô eine Unmenge an Techniken. Allein zu den 40 klassischen Würfen des Kôdôkan (Gokyô no Waza), den 8 Habukareta Waza und den 19 Shinmeisho No Waza kommen noch zahlreiche Wettkampf-Kombinationen und Variationen hinzu. Im regulären Training macht es bestimmt Sinn, sich mit verschiedensten Wurfformen zu beschäftigen. Für die Selbstverteidigung ist allerdings ein richtig guter Wurf weit besser als fünf mäßige. Ähnlich verhält es sich mit Würgern und Hebeln. Auch hier ist weniger meist wesentlich mehr.
Selbstfallwürfe
Auf Würfe bei denen Sie selbst zuerst fallen (Sutemi-Waza) sollte im Selbstverteidigungstraining verzichtet werden, da sich zum einen Unebenheiten in der Umgebung (Bordsteine, Stufen etc.) stark negativ auswirken können und zum anderen je nach Situation mit mehr als einem Aggressor gerechnet werden muss. Ein stabiler Stand kann in der SV Gold wert sein und sollte keinesfalls derartig leichfertig aufgegeben werden.
Bodenkampf
Neben dem Standbereich (Tachi-Waza) ist der Bodenkampf (Ne-Waza) das zweite große Standbein des modernen Jûdô. Auch für die Selbstverteidigung wurde der Wert des Bodenkampfes in den vergangenen Jahren rege diskutiert. Entgegen manchen Experten lässt sich diese Form des Bodenkampfes allerdings schnell zusammenfassen: Kämpfen Sie nur auf dem Boden, wenn Sie müssen! Die meisten Jûdôka gehen im Training allzu leichtfertig auf den Boden. Dieses Verhalten kann in der Selbstverteidigung gravierende Folgen haben. Schließlich muss durchaus auch mit mehreren Aggressoren gerechnet werden. Entsprechend sollte man den Bodenkampf möglichst vermeiden und im Fall des Falles möglichst schnell wieder auf die Füße kommen. Versuchen Sie also schon im Training bewusst den Bodenkampf zu vermeiden und üben Sie das schnelle Aufstehen.
Weiterhin ist anzumerken, dass der Jûdô-Bodenkampf zum Schutz der Wettkämpfer zwischenzeitlich um zahlreiche Techniken erleichtert wurde. So finden sich auch Handgelenk-, Bein- oder Genickhebel in zahlreichen traditionellen Jûdô-Büchern. Da sie aber im Wettkampf verboten sind, werden sie auch heute in den meisten Vereinen kaum geübt. Wenn sie allerdings im Training nicht verwendet werden, setzt sie verständlicherweise wohl auch kaum jemand mit den passenden Verteidigungen auseinander. In der Selbstverteidigung kann aber sowohl Ansatz, wie Abwehr den Unterschied ausmachen. Üben Sie also beides im Training.
Haltetechniken
Haltegriffe (Osae-Komi-Waza) am Boden sind ein bedeutender Aspekt des heutigen Jûdô-Wettkampfs und ein sicherer Umgang mit ihnen ein wichtiges Instrument für jeden Athleten. Für die Anwendung in der Selbstverteidigung haben sie für sich genommen allerdings kaum Bedeutung. Oder wollen Sie etwa einen Aggressor auf einer regennassen Seitenstraße scheinbar Stunden andauernde Minuten lang festhalten und auf das mögliche Eintreffen von Hilfe warten? Im Gegensatz zu Würgern oder Hebeln bieten Haltegriffe kaum Möglichkeiten, um den Gegner durch die Zufügung von Schmerzen zu kontrollieren. Ihre einzige Funktion ist es, den Gegner in einer Position zu fixieren. Da in der Realität kein Schietsrichter einschreitet und den Kampf beendet, sollte im SV-Training auch keine Zeit auf diese Techniken verwendet werden. Wenn Sie Haltegriffe üben wollen, dann tun Sie dies stets in Kombination mit finalen Techniken wie etwa Hebeln oder Würger.
Kata
Ähnlich wie im Karate sind auch im Jûdô die meisten der ursprünglichen Selbstverteidigungsanwendungen noch immer in den traditionellen Kata (Bsp.: Gô-no-Kata, Kime no Kata Kôdôkan Goshin Jûtsu, Gonosen-no-Kata) enthalten. Im Gegensatz zu den Karate-Formen müssen diese im Jûdô noch nicht einmal kompliziert entschlüsselt werden, da die Kata dort für gewöhnlich als Zwei-Personen-Formen geübt werden. Für die Auswahl effektiver Selbstverteidigungstechniken ist das Studium der Kata also keinesfalls Zeitverschwendung, sondern eher unentbehrlich.
Bedauerlicherweise wird den Formen in den meisten Vereinen allerdings heute kaum Beachtung geschenkt. Eine stärkere Fokussierung auf die Selbstverteidigung könnte dies zumindest teilweise ändern.
Schläge (passiv)
Mehr oder minder gut koordinierte Schläge sind eine Standardkomponente der meisten Selbstverteidigungssituationen. Wenn Sie sich also entsprechend vorbereiten wollen, sollten Sie dringend dazu passende Defensivaktionen erlernen. Ziel kann es dabei allerdings nicht sein, sich auf einen Faustkampf einzulassen, sondern eher ohne größere Verluste die Schlagdistanz zu überbrücken und einen Wurf oder Würger anzusetzen. Sie sollten sich dabei im Training auch an den einen oder anderen Treffer gewöhnen.
Schläge (aktiv)
Was heute kaum noch jemand weiß, geschweige denn im Training berücksichtigt, ist die Tatsache, dass Kanôs „sanfter Weg“ ursprünglich auch eine ganze Reihe von Schlag- und Tritttechniken, die so genannten Atemi-Waza, beinhaltete. Dieser gezielte Druck auf empfindliche Körperstellen (Atemi) spielt in der Selbstverteidigungskonzeption des Jûdô-Vorgängers Tenjin-Shinyô-Ryû bis heute eine bedeutende Rolle und wurde von Kanô auch ins Jûdô übernommen. So sagte er selbst etwa: „Wenn wir über die Möglichkeiten nachdenken, den Gegner im Jûdô zu schlagen, sollte die Kampfhaltung der eines Boxers ähneln“ [1] . Maeda Mitsuyo (1878-1941), direkter Schüler von Kanô und Vater des Gracie-Ju-Jûtsu, geht noch etwas weiter und sagt: „ Wir sollten wieder das Training mit Schlägen beginnen. Als 1. Dan also nach 3-4 Jahren sollte ein Jûdôka üben, mit Fäusten und Füßen zu stoßen“ [2] .
Da die Techniken im Wettkampf verboten sind, sind sie mit der Zeit aus den meisten Curricula verschwunden. Für die Selbstverteidigung kann eine intensive Beschäftigung mit Impakt-Techniken, sprich insbesondere Schlägen, nur wärmstens empfohlen werden. Besonders wichtig ist dabei das Üben mit tatsächlichem Auftreffen, etwa am Sandsack oder an der Pratze. Auch das Makiwara, der traditionelle Schlagpfosten des Karate kann hier wertvolle Dienste leisten.
Im Gegensatz zum Karate oder Boxen sollte der Fokus allerdings nicht auf dem Herbeiführen einer schnellen Entscheidung (KO-Schlag), sondern eher auf der Unterstützung der Wurfvorbereitung liegen. Schläge, Ellenbogen- und Knietechniken eignen sich hier hervorragend, um den Gegner zu schwächen und entsprechend leichter werfen zu können. Auf Faustgefechte sollte allerdings, wie oben geschrieben, tunlichst verzichtet werden.
Tritte
Tritte werden, maßgeblich durch zahlreiche entsprechende Machwerke der Filmindustrie, heute in ihrer tatsächlichen Kampfrelevanz stark überbewertet. Als Jûdôka müssen Sie sich daher auch nicht großartig mit Tritttechniken auseinandersetzen. Worauf Sie allerdings eine gewisse Zeit verwenden sollten, ist die Abwehr gegen den tiefen Vorwärts- und den tiefen Halbkreistritt. Diese Techniken kommen auch in der Selbstverteidigung gelegentlich vor und bergen bedeutende Gefahren. Vorsorge tut also Not.
Training ohne Gi und Obi
Die meisten Würfe, Befreiungen und Würger des modernen Jûdô machen heute in der ein oder anderen Form gebrauch vom Anzug (Gi) oder Gürtel (Obi). Für die Wettkampfsituation ist dies auch durchaus legitim, da beide zur Uniform des Wettkämpfers gehören. Wenn es allerdings um Selbstverteidigungstraining geht, sollte weitestgehend auf beides verzichtet werden.
Der Effekt sei an einem simplen Beispiel verdeutlicht: Wenn sie heute einen fortgeschrittenen Jûdôka im Ringerdress gegen einen gleichwertigen Ringer antreten lassen, wird er vermutlich wegen dem fehlenden Gi wenig Akzente setzen können. Lassen sie den Jûdôka allerdings drei bis sechs Monate komplett ohne Gi trainieren, wird die Situation bereits deutlich anders aussehen.
Die meisten Jûdôka sind stolz auf ihr Kumi Kata, das charakteristische Zugreifen, und das Training ohne Gi kommt ihnen oft wie das Schlachten heiliger Kühe vor. Dabei sagte Kanô Jigorô selbst: „Es ist anzumerken, dass das Randori bei dem man das Revers oder den Nacken des gegnerischen Kimono greift eine Trainingsform für Anfänger ist.“ [3]
Bereits wenige Einheiten ohne Gi können hier den Horizont bedeutend erweitern. Für die Selbstverteidigung ist so ein Training unerlässlich.
Vorgebeugte Kampfweise / Bankposition
Um sich vor Würfen des Gegners zu schützen, stehen heute viele Jûdôka im Wettkampf in einer weit vorgebeugten Position. Diese Tatsache wurde aber bereits von Kanô Jigorô (1860-1938) heftig kritisiert [4] . Sein Hauptargument war damals wie heute aktuell und absolut zutreffend: Diese Position lässt den Kopf und den Oberkörper nahezu vollkommen ungeschützt und somit frei für Schläge und Tritte des Gegners. Für die Selbstverteidigung sollten Sie sich also stets um eine aufrechte Kampfposition bemühen und vor allem den eigenen Kopf schützen.
Eine weitere, für die SV absolut untaugliche, Eigenart mancher Wettkämpfer ist das Einnehmen einer Bankposition oder Bauchlage im Bodenkampf. Nach Wettkampfregeln mag dies durchaus sinnvoll sein, da der Gegner Hinterkopf und Rücken nicht attackieren darf. Im Gegensatz zum Wettkämpfer würde sich sogar ein mäßiger Straßenschläger aber wohl kaum um einen Würger oder Hebel bemühen, sondern stattdessen Ihren ungedeckten Rücken mit Schlägen und Tritten attackieren. Derartig passives Verhalten kann in der SV katastrophale Auswirkungen haben und sollte daher unbedingt unterlassen werden.
Sportlicher Wettkampf
Das Argument des „sportlichen Wettkampfs“ wird heute häufig aufgegriffen, wenn es darum geht, einer Kampfsportart die Eignung zur Selbstverteidigung abzusprechen. Schließlich gäbe es ja im Wettkampf Schietsrichter, Regeln, Matten, viel Licht, Anzüge etc. Auch wenn alle diese Punkte zweifellos zutreffen, ist das Argument speziell im Fall des modernen Jûdô etwas differenziert zu sehen. Hier werden die Techniken schließlich nicht, wie in anderen Kampfsportarten vorab abgestoppt, sondern stets mit vollem Krafteinsatz gegen einen unkooperativen Gegner eingesetzt.
Hinzukommt, dass sich das (sportliche) Aggressionspotential und die entsprechende Nervosität einer Wettkampfsituation nur schwer mit vertrauten Partnern im Dôjô simulieren lässt. Beide Faktoren führen mit der Zeit zu einem beachtlichen (physischen wie psychischen) Durchhaltevermögen und gewissen Nehmerqualitäten. Dies sollte nicht unterschätz werden.
Training gegen zwei
Im sportlichen Jûdô-Shiai darf reglementgemäß (im Gegensatz zum Wrestling/Catchen) stets nur ein Gegner gegen den anderen antreten. In der Selbstverteidigungssituation muss diese Bedingung hingegen nicht zwangsläufig erfüllt sein. So kann es bereits helfen, wenn man im Training gelegentlich statt, wie üblich, eins zu eins, zwei zu eins paart.
Solche Übungen irritieren die meisten Übenden bei der Premiere ungemein. Ebenso interessant ist es aber auch zu sehen, wie schnell sich die Teilnehmer in ihrer Angreifer- bzw. Verteidigerrolle an die neue Situation anpassen!
Manch ein Leser mag sich vielleicht fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, anerkannte und bei vielen Menschen beliebte Sportarten wie Karate oder Jûdô auf derartig umständliche Weise für die Selbstverteidigung ‚umzurüsten'. Schließlich könne man doch auch direkt eines der zahlreichen Selbstverteidigungssysteme ohne Wettkampfeinfluss üben.
Diese Möglichkeit steht sicherlich jedermann offen. Wobei die Frage, ob dort wirklich eine größere Schnittmenge zwischen Trainingsalltag und Selbstverteidigung besteht noch immer im Raum steht und wahrscheinlich niemals allgemein geklärt werden kann.
Darüber hinaus ist anzumerken, dass Selbstverteidigung sowohl im Karate, als auch im Jûdô lange vor den Wettkampfsystemen geübt wurde und somit historisch weit fester mit den Wurzeln der Künste verbunden ist. Systeme wie Karate und Jûdô beschneiden sich durch eine überwiegende Konzentration auf Wettkämpfe selbst und behindern sich bedeutend in ihrer Entwicklung. Die Vermittlung effektiver Selbstverteidigungstechniken ist also keineswegs eine „Bastardisierung“ einer Sportart, sondern eine Rückeingliederung elementarer Kriterien der Kampfkunst. Die eigentlichen Verfehlungen liegen dabei bei den Fachverbänden, die diesen Zweig allzu lange vernachlässigt haben.
Matthias Golinski, 2007
http://www.TSURU.de
Erstveröffentlichung: 15. Mai 2007
Der will ja einiges ändern. Denkt ihr, dass man dadurch die SV-Fähigkeit verbessern kann?