Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerungen

Hier geht es um die Geschichte und um Traditionen des Judo
Antworten
CasimirC
2. Dan Träger
2. Dan Träger
Beiträge: 515
Registriert: 08.02.2012, 22:45
Bundesland: Sachsen

Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerungen

Beitrag von CasimirC »

Wie ich ja bereits an anderer Stelle angemerkt habe, schreibe ich derzeit meine Examensarbeit über die Entstehung des Boxens in England im 18. Jahrhundert. Bei meiner Forschung sind mir einige Parallelen zur Entstehung und Entwicklung des Judo aufgefallen, woraufhin sich mir ein paar Fragen stellten, die ich selber mit meinen derzeitigen Möglichkeiten nicht beantworten kann.

Kurzüberblick zum Boxen:
Das Boxen stammt ganz ursprünglich als sportliche Betätigung vom griechischen Allkampf (Pankration) ab, was quasi eine Mischung aus Ringen, Boxen und einigem mehr war. Nach einer Phase der scheinbaren Nichtpopularität nach der Antike kam der Faustkampf im 18. Jahrhundert vornehmlich durch die Fechtschulen wieder in Mode, wobei in der Anfangszeit auch Wurftechniken ähnlich derer aus dem Judo erlaubt waren und auch angewendet wurden. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts kamen diese Techniken im Boxen schließlich komplett aus der Mode. Interessant ist, dass einige Techniken bereits durch lokale Regeleinführungen in der Mitte des 18. Jahrhunderts verboten wurden, was oberflächlich damit begründet wurde, den Sport weniger gefährlich zu machen (kurz zuvor hatte der Regelersteller Broughton einen Gegner im Kampf tödlich verwundet). In der Wissenschaft gilt mittlerweile aber als sicher, dass wohl der Hauptgrund war, dass das Boxen durch das Aufstellen von sportlichen Regeln als Wettsport populär werden konnte, da nun Sieg, Niederlage, Foul,...usw. im Vergleich zu vorher klar abgegrenzt werden konnten (Sportwetten waren eine große Leidenschaft der Zuschauer aller Schichten und auch gute Verdienstmöglichkeiten für ALLE Beteiligten). Hinzu kommt, dass der Sport durch das Verbieten von bestimmten Techniken simpler wurde und gleichzeitig für das Publikum verständlicher. Außerdem: Wo der Faustkampf vorher als Mittel zum Austragen eines Duells diente, entwickelte er sich zeitlich um die erste Aufstellung von Boxregeln zum Wettkampfsport mit englischen Meisterschaften.

Nun mein Brückenschlag zum Judo.
Dort hat sich ja im Laufe der Jahre eine ähnliche Entwicklung durchgesetzt, wo, recht aktuell gesprochen, bspw. bei der einen oder anderen neuen Regel auch darauf geschaut wird, den Wettkampf für Zuschauer attraktiver/ interessanter zu machen (farbige Judogis und Matten, Verbot des passiven Griffkampfs, zeitliche Einschränkung des Bodenkampfs,...).

1) Kann man sagen, dass es hier an einem Punkt der Anfangszeit 'unseres' Judo auch eine Wechselwirkung zwischen Wettkampfgedanken und Regeländerungen gegeben hat? Sprich: Wurden in der Frühzeit bestimmte Regeln eingeführt, um Judo als klassischen Wettkampfsport einzurichten? (Stichwort: 'Vernachlässigung'/ Abschaffung der Atemi-waza im Randori/ Wettkampf vielleicht auch aus diesen Gründen?)

2) Gab es in Japan zu Beginn des Popularitätsanstiegs des Judo auch so etwas wie ein Spiel- und Wettmöglichkeit bei Judo-Wettkämpfen? Ich denke da an die Wettkämpfe zwischen den verschiedenen Judo-Schulen, da gab es ja sicherlich auch Zuschauer (Fans?), die das Spektakel ansehen wollten und möglicherweise auch Geld für ihren Favoriten verwetten konnten. Falls es auch hier eine Möglichkeit zum Wetten gab, könnten Regeländerung vielleicht auch darin begründet sein, dass man auch im Hinblick auf das Wetten einige Dinge im Kampf simpler, verständlicher und nachvollziehbarer regeln wollte?

Anmerkung: Meine Erläuterungen sowohl zum Boxen, als auch zum Judo sind äußerst detailarm, weil das absolut den Rahmen des Fadens und meiner Fragen sprengen würde. Ich wollte damit lediglich den groben Kontext meiner Gedanken umreißen. Also bitte keine Diskussionen darüber, wann wie wo beim Boxen nicht mehr geworfen wurde oder vielleicht doch noch wird, was Pankration genau beinhaltete oder dass es durchaus auch Teile der Judogemeinschaft gibt, in denen auch Atemi im Randori oder in Wettkämpfen eingesetzt werden :)

Wäre schön, wenn ihr mir vielleicht helfen könntet, meine Fragen zu beantworten.
Theorie: Wenn alle wissen, wie es geht, und es geht nicht.
Praxis: Wenn es geht, und keiner weiß, warum.
tutor!
Moderator
Moderator
Beiträge: 3879
Registriert: 08.08.2008, 10:41

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von tutor! »

I founded a new system for physical culture and mental training as well as for winning contests. I called this "Kodokan Judo",(J. Kano 1898)
Techniques are only the words of the language judo (Cichorei Kano, 24.12.2008)
Benutzeravatar
Fritz
Moderator
Moderator
Beiträge: 5164
Registriert: 14.11.2003, 11:06

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von Fritz »

Tja, Pankration, Boxen, Judo usw. waren mal im Ursprung Kampfkünste...
Und aus irgendeinem unerfindlichen Grund übernehmen dann die als Sport ausübbaren,
durchgeregelten Teilbereiche die Deutungshoheit...
Und wenn die ersten Regeln noch einsehbar eigentlich Sicherheits-Gedanken dienten (damit eben beim
(sportlichen) Vergleich niemand ernsthaft zu Schaden kommt) und alle eigentlich gewußt haben, daß
es neben den Wettkampfregeln noch so einiges mehr gibt,
werden "später" dann Regeln um der Regeln willen erfunden, um angeblich ein mehr an Attraktivität für ein
fiktives Publikum zu erreichen.
Damit sind die "Wrestling"-Sachen aus dem Boxen verschwunden,
die Würfe aus dem Kendo, die Atemi, Fuß/Bein/Genickhebel u.ä. aus dem "Judo",
beim Fechten fuchteln sie mit dünnen Drähten durch die Luft, Karate mutiert zum albernen Hüpfsport / alternativ zum Schautanz mit Rumgeschrei...

Alles in allem eigentlich 'ne Schande, wenn man überlegt, was an jeweiligem kämpferischen Wissen verloren geht...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
CasimirC
2. Dan Träger
2. Dan Träger
Beiträge: 515
Registriert: 08.02.2012, 22:45
Bundesland: Sachsen

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von CasimirC »

Man muss da eindeutig zwischen Sport und Kampfkunst unterscheiden.

Kämpfe im Pankration im antiken Griechenland fanden zu Volkfsfesten statt. Der Kampfstil war sehr defensiv, was mit der Gefährlichkeit des Pankration zu tun hatte (es war nahezu alles erlaubt und man trug bspw. mit Metallkugeln verstärkte Schlagbänder um die Fäuste). Der Sieger gewann Ruhm und Anerkennung, doch vor allem behielt er sein Leben, der Verlierer bezahlte in aller Regel mit dem Tod. In den römischen Arenen kämpften die Athleten später nur noch um Leben oder Tod.
Die alten asiatischen Kampfkünste waren ebenfalls dazu da, im Ernstfall den Kontrahenten zu töten, Rücksichtnahme konnte zum eigenen Tod führen. Da sich frühzeitliche Zivilisationen ähneln, gehe ich auch hier davon aus, dass in früherer Zeit auch hier Schaukämpfe auf Leben und Tod stattfanden.

Die Entwicklung der späteren Sportarten hat damit im Grunde nichts zu tun!
Boxen wurde von Fechtlehrern gelehrt (wahrscheinlich aufgrund ähnlicher Bewegungsmuster), doch der Faustkampf war da schon längst als nichttödliches Mittel zum Duellieren (als Alternative zum Pistolenduell oder dem Duell mit dem Degen) in der Gesellschaft verankert. Die antiken Ursprünge spielten für die Meister des neuzeitlichen Faustkampfs keine Rolle, zumal der Boxer als Gentleman auftreten sollte, und für den gehörten sich schlicht bestimmte Dinge nicht, die im antiken Kampf noch selbstverständlich waren (Ringertechniken waren beispielsweise recht lange regelkonform, aber wurde als "not manly" beurteilt und quasi verachtet). Boxen wurde als "Sport" betrieben.
Betrachtet man Kanos philosophische Überlegungen zum Judo, muss man auch hier davon ausgehen, dass er durch die Schaffung des Kodokan Judo keine ultimativen Killer ausbilden wollte, sondern körperlich und geistig sehr gut ausgebildete Menschen. Er schuf den Sport 'Judo', in Tradition und doch in Abgrenzung zu den früheren Kampfkünsten, bei denen es auf Leben und Tod ging.

Zudem: Wettkampfsport hat immer etwas mit Geld und Prestige zu tun. Viele Menschen können durch den Wettkampf Geld verdienen: Sportler, Trainer, Geldgeber, Buchmacher, Glücksspieler, Veranstalter,...das war schon immer so, seit sich die modernen Sportarten im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten. Ohne diese Verdienstmöglichkeiten hätte es wahrscheinlich sehr viel länger gedauert, bis das Sporttreiben in Gemeinschaften (Vereinen) für die breite Masse der Bevölkerung möglich gewesen wäre! Ein Zugeständnis an den Einfluss des Geldes war und ist dann halt auch, dass Regeln "marktkonform" angepasst werden mussten.

Wir sind wohl völlig einer Meinung, dass die ganz modernen Auswüchse dieser Marktanpassung teilweise skuril, teilweise nicht nachvollziehbar oder gar kontraproduktiv sind, darüber müssen wir nicht diskutierten. Was ich zeigen möchte ist, dass diese Anpassungen seit Beginn des Zeitalters des Sports stets durchgeführt wurden.

Du sprichst davon, dass erste Regeln durchaus sinnvoll gewesen sein können, "wenn [sie] noch einsehbar eigentlich Sicherheits-Gedanken dienten." Doch wo zieht man hier die Grenze?
Im Pankration war ALLES erlaubt, im ganz frühen Faustkampf wohl auch; dann hat man verboten, auf einen am Boden liegenden Gegner einzuprügeln; dann wurden Boxhandschuhe eingeführt; dann wurden Würfe, Tritte und Tiefschläge verboten; dann wurde die Trefferfläche auf die Front des Rumpfes und den vorderen, unteren und seitlichen Teil des Kopfes beschränkt. Sämtliche Maßnahmen könnte man als Sicherheitsregulierungen erklären, doch bis wohin war es nachvollziehbar, ab wann wurde es übertrieben?
Im japanischen KK/KS-Sektor sieht es nicht anders aus: Ganz früher alles erlaubt; erste Wettkampfregeln (siehe Link) verboten Atemi-waza; dann wurden ein paar Hebeltechniken verboten; dann bestimmte Würfe gestrichen; dann bestimmte Griffarten verboten; dann Beinfasstechniken verboten. Bis wohin war es nachvollziehbar, ab wann wurde es übertrieben?

Ich glaube übrigens auch nicht, dass das ganze tolle Wissen über Kampfkünste verloren geht. Es wird immer Anhänger der Kampfkünste geben, die sich tiefgehender mit der Materie beschäftigen werden als 'normale' Sportler. Die breite Masse wird sich dafür niemals interessieren, aber das war auch historisch gesehen noch nie so. Wissen wird stets tradiert, was jedoch nicht nur die wortgetreue Weitergabe und Übernahme bedeutet, sondern auch die stete Anpassung an Gegebenheiten, um der aktuellen Situation gerecht zu werden.
Theorie: Wenn alle wissen, wie es geht, und es geht nicht.
Praxis: Wenn es geht, und keiner weiß, warum.
Benutzeravatar
Fritz
Moderator
Moderator
Beiträge: 5164
Registriert: 14.11.2003, 11:06

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von Fritz »

CasimirC hat geschrieben:Die alten asiatischen Kampfkünste waren ebenfalls dazu da, im Ernstfall den Kontrahenten zu töten, Rücksichtnahme konnte zum eigenen Tod führen. Da sich frühzeitliche Zivilisationen ähneln, gehe ich auch hier davon aus, dass in früherer Zeit auch hier Schaukämpfe auf Leben und Tod stattfanden.
Ich glaube nicht, daß Schaukämpfe auf Leben und Tod die Ursache darin haben, daß Kampfkünste sind, was sie sind.
Ich halte Schaukämpfe auf Leben und Tod für eine Perversion dekadenter Gesellschaften...
Zum "Testen" echter Kampfkunst gab es damals was ganz Banales: Krieg u. Schlachtfeld...
Betrachtet man Kanos philosophische Überlegungen zum Judo, muss man auch hier davon ausgehen, dass er durch die Schaffung des Kodokan Judo keine ultimativen Killer ausbilden wollte, sondern körperlich und geistig sehr gut ausgebildete Menschen. Er schuf den Sport 'Judo', in Tradition und doch in Abgrenzung zu den früheren Kampfkünsten, bei denen es auf Leben und Tod ging.
Von immer wieder Behaupten, Kano hätte einen "Sport" geschaffen, wird es nicht
wahrer... Zitate von Kano gibt es zu Hauf, (da findest Du sicherlich auch einige hier im Forum) wo Kano eben genau darauf hinweist, daß Judo kein Sport ist und
wenn etwas vom Judo als Sport betrieben werden könnte, dies evt. nur das Judo-Randori sein könnte... Hatten wir bereits in endlosen Diskussionen...
Was Kano geschaffen hatte, war eine Körperertüchtigung mit pädagogischen Anspruch, welches die Leute gleichzeitig wehrhaft machen sollte.
CasimirC hat geschrieben:Ganz früher alles erlaubt; erste Wettkampfregeln (siehe Link) verboten Atemi-waza;
Auch dazu hatten wir schon diskutiert und
wenn Du den verlinkten Artikel aufmerksam liest, wirst Du erkennen, daß Syd Hoare zwar behauptet, daß Atemi verboten wären, aber der
vorher zitierte Regelsatz letztlich nur aussagt, daß nur Würfe und Katame-Waza bewertet werden... Selbst in aktuellen Wettkampfregeln
findet man kein klares Verbot der Atemi kurioserweise ;-)
CasimirC hat geschrieben:Zudem: Wettkampfsport hat immer etwas mit Geld und Prestige zu tun. Viele Menschen können durch den Wettkampf Geld verdienen: Sportler, Trainer, Geldgeber, Buchmacher, Glücksspieler, Veranstalter,...das war schon immer so, seit sich die modernen Sportarten im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten. Ohne diese Verdienstmöglichkeiten hätte es wahrscheinlich sehr viel länger gedauert, bis das Sporttreiben in Gemeinschaften (Vereinen) für die breite Masse der Bevölkerung möglich gewesen wäre! Ein Zugeständnis an den Einfluss des Geldes war und ist dann halt auch, dass Regeln "marktkonform" angepasst werden mussten.
Dann müssen sie zwei Tore aufstellen und irgendwie nen Ball mit hinzufügen...

Beim Judo sieht man ja sehr schön, daß die Regeln eben nicht marktkonform angepaßt werden, denn wer stellt die Zuschauer bei Judowettkämpfen
überwiegend? Richtig - Judoka und deren Angehörige.
So und nun die Preisfrage: Wer wird regelmäßig nicht befragt, ob und wie
Regeln geändert werden sollen? Richtig - Judoka und deren Angehörige...
Ständig höre ich den Schmarrn von höhere Attraktivität, mit dem jede Regeländerung uns verkauft wurde/wird - und?
Richtig, die Fernsehzeit mit Judo nahm konstant ab...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
CasimirC
2. Dan Träger
2. Dan Träger
Beiträge: 515
Registriert: 08.02.2012, 22:45
Bundesland: Sachsen

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von CasimirC »

Vielleicht zum Verständnis: Beim Begriff 'Sport' beziehe ich mich auf folgendes Buch als Grundlage: Behringer, Wolfgang: Kulturgeschichte des Sports. München 2012.

Nach Behringer gibt es keine gute, treffende Definition von 'Sport', aber mehrere Modelle, anhand derer versucht wird einzugrenzen, wann es sich bei einer Beschäftigung um einen Sport handelt.
Die wichtigsten Merkmale sind:
- spielerischer Charakter
- Leistungsvergleiche
- kultische Bedeutung, Ritualisierung
- hat im Regelfall etwas mit Bewegung zu tun

Außerdem bedeutend:
- innerhalb der Gemeinschaft anerkannter Regelkanon
- Fachpersonal (Trainer/ Lehrer!)
- Fachtexte zum Sport
- gewisse Infrastruktur (z.B. Sportstätten)

Sozialwissenschaftliche Sicht:
Sport verkörpert die zentralen Werte der Gesellschaft und vermittelt sie an die Sporttreibenden

Für meine Examensarbeit sind das die Merkmale, die den Bereich abstecken, ob es sich bei einer Betätigung um einen Sport handelt oder nicht.

Nach diesen Kriterien kann ich auch das von Kano geschaffene Kodokan Judo aus heutiger Sicht als Sport bezeichnen.

Die Frage, ob Kano es selber als Sport gesehen hat oder es als Sport erdacht oder konzipiert hat, stellt sich daher nicht, und das schließt auch in keinsterweise aus, dass Kano in das Kodokan Judo viel mehr integriert hat als eben nur diese Merkmale.


Zu den anderen Teilen deines Postings brauche ich mich wohl nicht zu äußern.
Theorie: Wenn alle wissen, wie es geht, und es geht nicht.
Praxis: Wenn es geht, und keiner weiß, warum.
JSC Mitglied
Blau Gurt Träger
Blau Gurt Träger
Beiträge: 139
Registriert: 21.08.2012, 16:41

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von JSC Mitglied »

  • Der spielerische Charakter ist nicht bei allen Sportarten vorhanden z.B. Leichtathletik/Gewichtheben etc.
  • Leisutngsvergleich. Ich glaube ein Breitensportler, der nur Sport macht, um fit zu bleiben ist daran nicht interessiert
  • Ritualisierung/hat etwas mit Bewegung zu tun. Damit kann man auch Kalligraphie dann dazu zählen (Man hat Rituale und bewegt seine Hand)
Aber ist Kata dann auch Sport (selbst wenn man nur Kata trainiert, wie in manchen Schulen der Koryu)?
freundliche Grüße
JSC Mitglied

Der Horizont vieler Menschen ist ein Kreis mit Radius Null - und das nennen sie ihren Standpunkt."
- Neben Einstein auch David Hilbert und Leonhard Euler zugeschrieben
tutor!
Moderator
Moderator
Beiträge: 3879
Registriert: 08.08.2008, 10:41

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von tutor! »

CasimirC hat geschrieben:(...)Nach diesen Kriterien kann ich auch das von Kano geschaffene Kodokan Judo aus heutiger Sicht als Sport bezeichnen.

Die Frage, ob Kano es selber als Sport gesehen hat oder es als Sport erdacht oder konzipiert hat, stellt sich daher nicht, und das schließt auch in keinsterweise aus, dass Kano in das Kodokan Judo viel mehr integriert hat als eben nur diese Merkmale.
(...)
Genau so ist es, denn was so oft vergessen wird, ist die simple Tatsache, dass der Begriff "Sport" heute viel umfassender verwendet wird, als in früheren Epochen.

Im 19. Jahrhundert wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, ein System der Leibesertüchtigung und Wertevermittlung wie Judo als Sport zu bezeichnen. Man hatte andere Begriffe dafür, wie z.B. "Gymnastik" oder "Turnen" (Bitte mal GutsMuths oder Jahn lesen). Der Begriff Sport entwickelte sich nach dem zweiten Weltkrieg im deutschen Sprachraum (also Vorsicht bei Übersetzungen und fremdsprachigen Texten) zu einem Oberbegriff. Katalysator für diesen Sprachwandel war das Bestreben, alle Formen des Sports/Turnens/Gymnastik usw. unter einem organisatorischen Dach zu vereinigen (dem Deutschen Sportbund) und auch wissenschaftlich zu erforschen (in den Sportfakultäten oder Sporthochschulen).

Noch im Jahr 1965 kategorisierte H. Bernett (https://de.wikipedia.org/wiki/Hajo_Bernett) in seinem richtungsweisenden Werk "Grundformen der Leibeserziehung" Sport, Spiel, Turnen und Gymnastik als gegeneinander abgegrenzte Formen mit spezifischen Unterschieden. Diese Sichtweise wurde ab Ende der 1970er Jahre durch die beschriebenen Veränderungen abgelöst.

Kanos Kodokan-Judo widerstrebt genauso klar dem Sportbegriff des 19. Jahrhunderts (bei dem es ausschließlich um Zerstreuung - se desporter - und Freizeit ging) wie es dem heutigen Sportbegriff (als "erziehendem" Sport) entspricht. Erziehung und Zerstreuung waren damals erbitterte Gegensätze, heute wird das ja etwas anders gesehen.

(vgl. hierzu auch http://dasjudoforum.de/forum/viewtopic.php?f=20&t=3488)

Es ist wie so oft: wer den historischen Bedeutungswandel, den viele Begriffe nun einmal erfahren (haben) nicht kennt, wird niemals in der Lage sein, historische Texte, in denen diese Begriffe vorkommen, wirklich zu verstehen.
I founded a new system for physical culture and mental training as well as for winning contests. I called this "Kodokan Judo",(J. Kano 1898)
Techniques are only the words of the language judo (Cichorei Kano, 24.12.2008)
tutor!
Moderator
Moderator
Beiträge: 3879
Registriert: 08.08.2008, 10:41

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von tutor! »

JSC Mitglied hat geschrieben:Aber ist Kata dann auch Sport (selbst wenn man nur Kata trainiert, wie in manchen Schulen der Koryu)?
Das kommt eben darauf an, wie man "Sport" definiert. Nach heutigem - übergreifenden - Begriffsverständnis (s.o.) eindeutig ja, jedenfalls nach dem Kata-Verständnis von Kano.
I founded a new system for physical culture and mental training as well as for winning contests. I called this "Kodokan Judo",(J. Kano 1898)
Techniques are only the words of the language judo (Cichorei Kano, 24.12.2008)
CasimirC
2. Dan Träger
2. Dan Träger
Beiträge: 515
Registriert: 08.02.2012, 22:45
Bundesland: Sachsen

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von CasimirC »

JSC Mitglied hat geschrieben:
  • Der spielerische Charakter ist nicht bei allen Sportarten vorhanden z.B. Leichtathletik/Gewichtheben etc.
  • Leisutngsvergleich. Ich glaube ein Breitensportler, der nur Sport macht, um fit zu bleiben ist daran nicht interessiert
  • Ritualisierung/hat etwas mit Bewegung zu tun. Damit kann man auch Kalligraphie dann dazu zählen (Man hat Rituale und bewegt seine Hand)
Sieh es mal so:
  • Spielerischer Charakter kann schon dann gegeben sein, wenn ich mich zum Training oder im Wettkampf mit anderen messe, und zwar in irgendeiner Form so, dass es mir auch Freude bzw. Ablenkung (siehe tutor!s Hinweis auf 'se desporter') bringt. Sieh den Begriff 'Spiel' als Freude/ Ablenkung bringendes Wetteifern mit anderen. Dann bekommst du natürlich auch Leichtathletik in diese Definition gepackt.
  • Leistungsvergleiche können bspw. sein, dass man versucht, seine Leistung als Hobbysportler an bessere Mitsportler anzugleichen, aber sie müssen auch nicht immer als quasi Konkurrenzveranstaltung verstanden werden: Wer "fit bleiben" möchte, setzt sich auch selber ein Leistungsniveau, welches er erreichen, erhalten oder ausbauen möchte. Auch das kann als Leistungsvergleich gesehen werden.
  • Mit Ritualisierung sind in erster Linie sportarteigene wiederkehrende Handlungen gemeint. Beim Fußballspiel z.B. das vorherige Aufstellen vor dem Anstoß, beim Judo das ritualisierte An- und Abgrüßen.
Aber ich gebe dir Recht: Es ist fast nicht möglich, ALLE Sportarten in eine gute Definition zu fassen, da sie entweder zu eng gesteckt oder zu weit gefasst und damit unbrauchbar ist. Bei meinen Grundsätzen zum Sport habe ich bspw. das Problem, dass ich z.B. Schach und andere als quasi Ausnahme-Sportarten erwähnen muss, weil der Bewegungscharakter dort eben nicht im Vordergrund steht ("Denksport"). Auch populäre eSports passen nur schlecht in meinen Definitionsversuch.
Es gibt wie gesagt keine gute wissenschaftliche Definition von Sport, daher bleiben derzeit nur solche Behelfsmöglichkeiten, den Begriffsrahmen abzustecken. Da liegt es auch auf der Hand, dass bei einigen Sportarten gewisse Aspekte wenig bis kaum Berücksichtigung finden, andere Beschäftigungen passen treffend zu ein paar der gewählten Merkmale, werden trotzdem nicht zum Begriff "Sport" hinzugezählt.

Kleiner Exkurs bzgl. dem von tutor! angesprochenen Bedeutungswandel von "Sport" (Danke für deine Ergänzungen :) ):
Zu den sogenannten "english sports" der Frühen Neuzeit zählten z.B. auch die Fuchsjagd, Hahnenkämpfe, cock-throwing (Werfen mit Stöcken auf einen festgebundenen Hahn), Leistungsvergleiche zwischen Mensch und Tier (bull-baiting, bear-baiting) und auch das gambling (Glücksspiel). Nach heutigen Maßstäben, gehören diese Tätigkeiten nicht mehr unter den Begriff Sport, aber zur damaligen Zeit gab es gute Gründe, sie als "sports" zu bezeichnen.
Zuletzt geändert von CasimirC am 16.05.2013, 12:05, insgesamt 2-mal geändert.
Theorie: Wenn alle wissen, wie es geht, und es geht nicht.
Praxis: Wenn es geht, und keiner weiß, warum.
Benutzeravatar
Fritz
Moderator
Moderator
Beiträge: 5164
Registriert: 14.11.2003, 11:06

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von Fritz »

@Casimir: Wenn Du allerdings so einen weitgefaßten Sportbegriff verwendest,
dann solltest Du über diese Aussage auch nochmal nachdenken:
CasimirC hat geschrieben:Man muss da eindeutig zwischen Sport und Kampfkunst unterscheiden
Ok, beim "spielerischen Charakter" könnte man sich noch streiten,
("Leistungsvergleiche" sind ja auch nicht mehr zwingend heutzutage, gibt ja Leute die
Sport treiben in dem sie täglich 10 Bahnen schwimmen, ohne auf die Uhr zu schauen...)
aber die anderen Kriterien sollten im Training einer Kampfkunst dann schon
zutreffen...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
JSC Mitglied
Blau Gurt Träger
Blau Gurt Träger
Beiträge: 139
Registriert: 21.08.2012, 16:41

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von JSC Mitglied »

Fritz hat geschrieben:("Leistungsvergleiche" sind ja auch nicht mehr zwingend heutzutage, gibt ja Leute die
Sport treiben in dem sie täglich 10 Bahnen schwimmen, ohne auf die Uhr zu schauen...)
aber die anderen Kriterien sollten im Training einer Kampfkunst dann schon
zutreffen...
So habe ich es gemeint.

Jetzt habe ich etwas mehr Zeit. Im Duden steht auch: danach streben, nachetwas streben. (http://www.duden.de/rechtschreibung/wetteifern)
Wenn ein Breitensportler seinen nächsten Gürtel/Trainerlizenz verlängert/Lehrgänge besucht/etc... auch nach Wissen bzw. Können strebt.

Tutor! hat recht mit seiner Definition, dass Sport im Laufe der Zeit unterschiedliche Definitionen hat bzw. hatte.

Ritualisierung gibt es in den "modernen" KK (z.B. Krav Maga) nicht. Dort werden allerdings manchmal - vereinsabhhängig - an/abgegrüßt.
Bewegung ist fast überall vorhanden, allerdings ist die nicht immer Sport. Denn hier - wie Tutor! schon beschrieb - "amüsiert" man sich weniger oder garnicht. IMHO ist das muss man sich doch an dem deportare (sich zerstreuen, sich vergnügen) orientieren.
freundliche Grüße
JSC Mitglied

Der Horizont vieler Menschen ist ein Kreis mit Radius Null - und das nennen sie ihren Standpunkt."
- Neben Einstein auch David Hilbert und Leonhard Euler zugeschrieben
CasimirC
2. Dan Träger
2. Dan Träger
Beiträge: 515
Registriert: 08.02.2012, 22:45
Bundesland: Sachsen

Re: Historischer Zusammenhang Wettkampfjudo und Regeländerun

Beitrag von CasimirC »

Fritz hat geschrieben:@Casimir: Wenn Du allerdings so einen weitgefaßten Sportbegriff verwendest,
dann solltest Du über diese Aussage auch nochmal nachdenken:
CasimirC hat geschrieben:Man muss da eindeutig zwischen Sport und Kampfkunst unterscheiden
Ok, beim "spielerischen Charakter" könnte man sich noch streiten,
("Leistungsvergleiche" sind ja auch nicht mehr zwingend heutzutage, gibt ja Leute die
Sport treiben in dem sie täglich 10 Bahnen schwimmen, ohne auf die Uhr zu schauen...)
aber die anderen Kriterien sollten im Training einer Kampfkunst dann schon
zutreffen...
Das ist in der Tat eine knifflige Sache, aber bei meiner heutigen Recherche bin ich auf eine interessante Beschreibung gestoßen. Der Sporthistoriker Andreas Luh charakterisiert "vormoderne Formen der Körper- und Bewegungskultur [durch die ihnen innewohnenden] kriegerisch-militärischen Bezüge [...], oder sie hatten religiös-kultische Bezüge [...] oder sie dienten der Subsistenzsicherung." [Luh, Andreas: Entstehung und Ausbreitung des modernen Sports in Deutschland im 20. Jahrhundert. Ein Überblick. In: Krüger, M.; Langenfeld, H. (Hrsg.): Handbuch Sportgeschichte. Schorndorf 2010.]
Leider gelingt es auch ihm nicht, den Begriff 'Sport' im Vergleich dazu sinnvoll zu definieren, weil er sich zu sehr auf die Organisationsform beschränkt (Verbände, Vereine, Medien), was zweifelsohne ebenfalls wichtige Faktoren, aber für meinen Geschmack nicht DIE zentralen Merkmale eines Sports sind.

Zur Frage nach der Bewegung als wichtiges Merkmal eines Sports möchte ich mich etwas korrigieren. Vielleicht passt an dieser Stelle der Begriff "Geschick" besser, also Sport als Methode, sein Geschick in diesem Bereich zu fördern. Dann kriege ich auch die eSports und Schach unter, da Geschick sowohl körperlich, als auch geistig verstanden werden kann. Problem: Die Grobdefinition wird weitläufiger...

@JSC Mitglied: Darf ich dein Posting als Zustimmung meiner Thesen verstehen? Ich sehe nämlich keinen Widerspruch zu dem, was ich bereits geschrieben habe, aber du ergänzt meine Annahmen durch praktische Beispiele (Krav Maga passt bspw. in meine Definition von Sport nicht, weil der Leistungsvergleich im Sinne eines Wettstreits fehlt; in diesem Sinne muss ich auch Fritz' Beispiel des Schwimmers zustimmen und meine Gedanken bzgl. individuellem Leistungsvergleich etwas revidieren).
Theorie: Wenn alle wissen, wie es geht, und es geht nicht.
Praxis: Wenn es geht, und keiner weiß, warum.
Antworten