Geschichte des Bushido - interessante Dissertation

Hier geht es um die Geschichte und um Traditionen des Judo
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tutor!
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Geschichte des Bushido - interessante Dissertation

Beitrag von tutor! »

Dissertationen sind sicherlich kein leichter Lesestoff für die Bettlektüre, aber mitunter doch mehr als nur einen Blick wert. Denken wir nur an die Dissertation von Andreas Niehaus.

Auf der Suche nach wissenschaftlicher Literatur zum Thema "Bushido als invented tradition" bin ich auf folgende Disseration von Yoko Nakamura mit dem Titel "Bushido-Diskurs - Die Analyse der Diskrepanz zwischen Ideal und Realität im Bushidō-Diskurs aus dem Jahr 1904" gestoßen:

http://othes.univie.ac.at/3182/

Im Abstract heißt es:
Der Schwerpunkt meiner Hauptthematik, die Analyse der Diskrepanz zwischen Realität und Ideal im Bushidō-Diskurs aus dem Jahr 1904, liegt auf der „Reproduktivität“ einer neu „erfundenen“ Tradition (invented tradition) im Fall Japans. In Anlehnung an Hobsbawm's These richtet sich meine Fragestellung nach dem Wesen einer japanischen Moralform, die auch heutzutage in der japanischen Gesellschaft einen wichtigen Stellenwert einnimmt.
Im Prozess der grundlegenden Reform des Staatswesens in der Meiji-Zeit (1868-1912) erkannte Japan die Notwendigkeit einer Moralform auf nationaler Ebene, der einst mit dem Aufstieg der Kriegerschicht um das 16. Jahrhundert entstandene Moralkodex der Samurai, das Bushidō. Dieser wurde in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt und sollte auch die rekonstruierte Loyalitätsstruktur in direkter Verbundenheit mit dem Tennō und dem Volk ermöglichen. Jedoch mussten sich die Intellektuellen in erster Linie mit der Diskrepanz zwischen Realität und Ideal konfrontieren. Bereits in der Phase der Verfeinerung des Bushidō während der Edo-Zeit (1603-1867) führte folgender Zwiespalt zur Problematik mit dem Wesen der Moral: Einerseits kreierten die herrenlosen Samurai ihre eigene Form von Moral, die zum Teil dem Shogunat kritisch gegenüber stand - ihre Kritik an die zeitgenössische Gesellschaftsform blieb zunächst auf „privater“ Ebene - andererseits strebte das Shogunat nach einer „öffentlichen“ Moralform. Dieser Zwiespalt zwischen der privaten und der öffentlichen Norm erforderte die Präzisierung der Bedeutung von „Privatheit“ und der „Öffentlichkeit“ im Zusammenhang mit der Bushidō-Konzeption. In deren Gegenüberstellung versucht meine Arbeit den Stellenwert des Bushidō-Diskurses in der Entwicklung von privater auf öffentliche Ebene zu etablieren.
Insbesondere im Bereich der Geschichtswissenschaft ist der Aspekt vorherrschend, Bushidō als historisch bedingte Moralform zu determinieren, dessen Aktualität in der heutigen Gesellschaft nicht im Sinne ist. Jedoch weist meine Forschung darauf hin, dass zwei Bushidō-Diskurse für den Übergang von Tradition zur Gegenwart verantwortlich sind, welche Zweifel an der Diskontinuität des Bushidō hervorrief. Der erste Bushidō-Diskurs entflammte, als der Konflikt um das Wesen der Loyalität nach der Rache der 47 Samurai im Jahr 1703 ausbrach.
Der Kampf um die Vormachtstellung Japans in der Meiji-Zeit führte zu erneuten Überlegungen um Ehre, Pflicht und Scham der Bushidō-Konzeption. Widersprüchliche Elemente in Bezug auf Selbstmord und Kriegsgefangenschaft während des Russisch-Japanischen Krieges (1904-1905) gaben den Anlass für den zweiten Bushidō-Diskurs im Jahr 1904.
Infolgedessen konzentriert sich der erste Teil der Arbeit auf den ersten Bushidō-Diskurs während der Edo-Zeit und legt maßgebend das Wesen der Privatheit in der japanischen Herr-Untertan-Beziehung fest. Die Konfrontation mit dem Zwiespalt in der Loyalitätsstruktur stellte somit die Basis für den Wandel vom Moralbewusstsein der Krieger zur einheitlichen Moralkonzeption her. Der Hauptteil meiner Arbeit legt diesen Prozess der Nationalisierung der Moralform im Zuge der radikalen gesellschaftlichen Umorientierung dar und behandelt die Frage der Kontinuität des Moralbewusstseins anhand des zweiten Bushidō-Diskurses.
Die Analyse des zweiten Bushidō-Diskurses stellt auch meine These unter Beweis, dass Bushidō in der „Formalität“ der Moral seine Traditionalität bewahrte. Jedoch trug die Auseinandersetzung mit dem im Bushidō konzipierten Moralbewusstsein, das sich im Einfluss der westlichen Moralphilosophien zum einheitlichen Bewusstsein (im Sinne einer gefühlsmäßigen Wahrnehmung des Irrationalen) der Japaner entwickelte, zur Kontinuität des Bushidō bei. Dies verleiht auch heutzutage dem Bushidō seine Gültigkeit. Diesbezüglich untersucht meine Arbeit nicht nur die Frage nach der „Reproduzierbarkeit“ einer Tradition, sondern auch das reziproke Verhältnis des Formalismus und des Idealismus in der rekonstruierten Bushidō-Konzeption.
I founded a new system for physical culture and mental training as well as for winning contests. I called this "Kodokan Judo",(J. Kano 1898)
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Re: Geschichte des Bushido - interessante Dissertation

Beitrag von mifune10dan »

Hallo Tutor,
auch früh morgens kein leichter Lesestoff ;) aber sehr interressant. Man erfährt hier schon ganz gut wie die Japaner so denken.
Danke für den starken Morgenkaffee :danke
Gruß
Reinhard
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Asakusa
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Re: Geschichte des Bushido - interessante Dissertation

Beitrag von Asakusa »

Hochinteressant! Wenn man die Aussagen zum Bushido zur Meji-Zeit in Relation zu Kanos Aussagen bzw. deren Interpretation in diversen Abhandlungen setzt
(z.B. Mind over Muscles oder Jigoro Kano and the Kodokan), kann man sich nun wesentlich besser in den Zeitgeist um die Gründung des Kodokan und der
Entstehung des Kodokan-Judo versetzen. Im zweitgenannten Buch haben mich die Aussagen über das "Bugei"-Training der Samurai und dessen moralischen
Anspruch an die "Kultivierung der Menschlichkeit" ("Humanity", S.34, 2. Absatz) schon etwas verwundert, da ich nicht genügend Einblick in die Entwicklung und
Interpretation des Bushido zu dieser Zeit hatte (und auch noch nicht habe) und von der, heute moralisch-kritisch betrachteten, Hagakure-Auslegung ausging. Dabei unterstellte
ich fälschlicherweise, die ersten hochgradigen Idealisierungen wären erst während und nach der Showa-Zeit vorgenommen worden.

Es gab der Dissertation folgend, historisch mehrfach einen Richtungswechsel in der Auslegung und Wertung des Bushido. Allerdings bin ich noch nicht sicher, ob ich die
Begrifflichkeiten "Bugei" (traditionelle Kampfkünste) und Bushido nicht auf unzulässige Weise vermische... (mal abgesehen von der Interpretation des Begriffes
"Menschlichkeit" in damaligen und heutigen Zeiten und den differenten Kulturkreisen).

Mal sehen, was die nächsten Stunden (leider nur nebenei) lesen noch hervorbringen –
ist ja wirklich kein Groschenroman…


Vielen Dank tutor! !
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tutor!
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Re: Geschichte des Bushido - interessante Dissertation

Beitrag von tutor! »

Wer noch mehr Zeit hat:

https://circle.ubc.ca/handle/2429/31136

Ein ähnliche Arbeit auf englisch. Und wer ganz viel Zeit hat, kann ja mal vergleichen ;)
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