Einfluß der Ärmellänge auf die Entwicklung der Wurftechniken

Hier geht es um die Geschichte und um Traditionen des Judo
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tutor!
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Einfluß der Ärmellänge auf die Entwicklung der Wurftechniken

Beitrag von tutor! »

Herausgelöster Faden von: http://www.dasjudoforum.de/forum/viewto ... =20&t=5501
Begründung: Im Ursprungsfaden ging es dem Ersteller des Fadens nach eigner Aussage darum, eine bestimmte These auf den Prüfstand zu stellen.
Die Fortsetzung des Themas entwickelte sich jedoch allgemeiner und hatte mit der Absicht des Threaderstellers nichts mehr zu tun.

katana hat geschrieben:Man könnte den "ärmelabhängigen Tai Otoshi" also maximal als eine Variante dieser Technikgruppe betrachten.
Daß diese Technik im Kodokan (von wem auch immer) entwickelt wurde, ist blanker Humbug.
KK
Behauptet ja auch keiner. Interessant ist aber der Stellenwert des Tai-otoshi im Kodokan-Judo. Ich habe oben zwei Bilddokumente verlinkt (Anm.: (http://www.library.umass.edu/spcoll/ima ... 006_19.jpg / http://mek.oszk.hu/03100/03192/), die zeigen, dass Tai-otoshi im Kodokan-Judo bereits gemacht wurde, bevor die Jackenärmel verlängert wurden.

In der Gokyo-no-waza von 1895 war Tai-otoshi sogar in der ersten Stufe, 1920 ist er in die zweite Stufe nach hinten versetzt worden. Man braucht also gar nicht danach zu suchen, ob Tai-otoshi in irgendeiner Form in anderen Stilen und/oder in anderen Ländern bekannt war: entscheidend ist, dass er bereits im 19. Jahrhundert zum Repertoire der Wurftechniken des Kodokan gehörte.

Es kann aber auch nicht bezweifelt werden, dass durch die Verlängerung der Ärmel zusätzlich Griffmöglichkeiten entstanden sind, die insbesondere einen Gleichgewichtsbruch nach vorne oder schräg-vorne begünstigten. Dadurch - und so verstehe ich auch Todo - ergaben sich häufiger Situationen, in denen Tai-otoshi angewendet werden konnte.

Allerdings würde mich interessieren, auf welcher Grundlage Todo ausgerechnet das Beispiel Tai-otoshi nennt. Bei Daigo ist z.B. beschrieben, dass Hane-goshi um 1918 herum, also etwa 10 Jahre nach Verlängerung der Ärmel, äußerst populär war.

So wurden bei einem Turnier im Kodokan 1918 von 224 Kämpfen im Stand 80 durch Ashi-waza, 65 durch Koshi-waza und 27 durch Te-waza entscheiden.

Techniken mit Wurfrichtung nach vorne oder schräg-rechts waren darunter (in Klammern die Rangfolge innerhalb der Gesamtliste)
- 34x Hane-goshi (1)
- 20x Uchi-mata (3)
- 17x Seoi-nage (4)
- 11 Hane-maki-komi (5) - Vermutlich als Weiterführung von Hane-goshi (Hane-maki-komi damals übrigens noch nicht in der Gokyo)
- 10x Tsuri-komi-goshi (7)

Es fehlten eigentlich nur O-soto-gari (22x, 2.) und O-soto-gaeshi (11x, 6.)
Von den 125 Nennungen in der TOP-7, sind alleine 92 Techniken nach vorne oder schräg-vorne. Auf die Sutemi-waza entfielen übrigens insgesamt 30 (19+11).

Schaut man sich das einmal an, kommt man zu ganz anderen Schlüssen - jedenfalls, was die Zeit bis ca. 1920 betrifft. Denn ich schrieb ja schon an anderer Stelle, dass die Blütezeit des Tai-otoshi noch kommen sollte.

Ich wundere mich sehr, warum Todo an dieser Stelle die Koshi-waza nicht erwähnt hat. Neben den beiden aufgeführten Hane-goshi und Tsuri-komi-goshi steuerten die anderen Koshi--waza immerhin noch 31 Siege dazu - einen mehr als die Sutemi-waza zusammengerechnet. Koshi-waza rückten übrigens 1920 bei der Revision der Gokyo insgesamt etwas nach vorne....
I founded a new system for physical culture and mental training as well as for winning contests. I called this "Kodokan Judo",(J. Kano 1898)
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Re: Ärmellänge in den Koryû Bugei

Beitrag von katana »

tutor hat geschrieben:Behauptet ja auch keiner.
Ich dachte schon, daß das behauptet wurde (Zitat aus Fritz´s-Beitrag)
Da die Jacke bis Anfang des 20.Jahrhunderts nur sehr kurze Ärmel hatte, konnten zwar Techniken wie Seoi-Nage und Harai-Goshi ausgeführt werden, zum Beispiel aber nicht Tai-Otoshi.
Kano, der Begründer des Judos, verlängerte die Ärmel der Jacken.
Dies impliziert für mich, daß der Tai Otoshi eine Errungenschaft der Ärmelverlängerung sei...,
...da er ja vorher nicht ausgeführt werden konnte.
Wer das nun behauptet hat, ist im Zitat nicht gekennzeichnet( :oops: ).
tutor hat geschrieben:Allerdings würde mich interessieren, auf welcher Grundlage Todo ausgerechnet das Beispiel Tai-otoshi nennt. Bei Daigo ist z.B. beschrieben, dass Hane-goshi um 1918 herum, also etwa 10 Jahre nach Verlängerung der Ärmel, äußerst populär war.
Sorry, aber hier kann ich nun gedanklich gar nicht mehr folgen. :dontknow

KK
tutor!
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Re: Ärmellänge in den Koryû Bugei

Beitrag von tutor! »

katana hat geschrieben:Sorry, aber hier kann ich nun gedanklich gar nicht mehr folgen. :dontknow
Gut, dass ich Dich wieder abholen kann.

Es ist mir keine Quelle bekannt, in der bestritten würde, dass die um 1907 als Verletzungsprävention gedachte Verlängerung der Ärmel einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Wurftechniken des Kodokan-Judo gehabt hätte. Entwicklung ist hier mehrdeutig gemeint:
  • Entwicklung von "neuen" Varianten der Techniken unter Ausnutzung der zusätzlichen Griffmöglichkeiten
  • Verschiebung der relativen Häufigkeit der Anwendung von Techniken: einige wurden häufiger angewendet, andere weniger.
Aus dem kurzen Zitat von Todo erschließt sich mir nicht - wie ich oben schrieb - warum er Tai-otoshi als Beispiel anführt, denn _die_ Modetechnik in den auf die Verlängerung der Ärmel folgenden 10 Jahren war nicht Tai-otoshi, sondern Hane-goshi. Übrigens kam auch Tsuri-komi-goshi zu einer steigenden Popularität. Er war die letzte - wahrscheinlich um 1911 nachträglich angefügte - Technik der "alten" Gokyo von 1895.

Um das Bild abzurunden habe ich aus dem Kapitel über Hane-goshi "Daigo 1" die Statistik der Verteilung der Techniken bei einem Turnier am Kodokan 1918 gepostet. Daraus ist erkennbar, dass große Techniken nach schräg-vorne die am häufigsten angewendeten Techniken der Zeit waren. Sie funktionieren zwar auch mit Doppelreversgriff oder mit Griff am Oberarm (also auch bei kurzen Ärmeln), aber wir alle wissen auch aus eigener Erfahrung, dass der Griff am unteren Ärmel gerade für diese Techniken vorteilhaft sein kann.

Die Dominanz der Ashi-waza und der Koshi-waza mit 2/3 aller Wertungen ist m.M.n. frappierend. Abgesehen von Seoi-nage kommen die anderen Te-waza zusammen auf gerade einmal 10 Nennungen, so dass der Einfluss der Ärmelverlängerung auf die Anwendung(shäufigkeit) von Tai-otoshi zumindest in den ersten 10 Jahren danach nur recht gering gewesen sein kann.

Allmählich würde mich der Volltext von Todos Aufsatz interessieren....
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Re: Ärmellänge in den Koryû Bugei

Beitrag von Fritz »

- 11 Hane-maki-komi (5) - Vermutlich als Weiterführung von Hane-goshi (Hane-maki-komi damals übrigens noch nicht in der Gokyo)
- 10x Tsuri-komi-goshi (7)
Oder der H-M-K war die Weiterführung von Tsuri-Komi-Goshi:



;-)
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Ärmellänge in den Koryû Bugei

Beitrag von tutor! »

Auch das geht - und wie man sieht mit Griff am Ärmelende ;)

Ich wusste gar nicht, dass die Videos wieder sichtbar sind. Danke!
Im oben verlinkten alten Faden schrieb ich mal, dass der Tai-otoshi erst später zur vollen Blüte entwickelt wurde.


Schaut mal, wo der Griff der Zughand ist....
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Re: Ärmellänge in den Koryû Bugei

Beitrag von katana »

Es ist natürlich klar, daß man den Ärmel nutzt, wenn er denn schon vorhanden ist.
Um aber auch zu sehen, daß viele schöne Techniken auch ohne Ärmel funktionieren,
und das nicht nur in historischer Theorie...mal diesen Link anbei:

ab der 2. Hälfte wirds zunehmend interessant.
KK
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Re: Ärmellänge in den Koryû Bugei

Beitrag von tutor! »

Ja, natürlich ist es grundsätzlich möglich.

In meiner Zeit als Wettkämpfer in den 1980er Jahren waren übrigens die Ärmel auch deutlich kürzer (bis Mitte des Unterarms) und deutlich enger (nur zwei/drei fingerbreit "Luft") als heute. Damals ging es ja auch. Jedoch wurde das Lösen des Griffs in dieser Zeit äußerst "populär", so dass die Notbremse gezogen und die Ärmel verlängert und verbreitert werden mussten.

Vielleicht sollte man aber dazu sagen, dass die käuflichen Anzüge durchaus "normal" waren - die Wettkämpfer fingen nur langsam an, die Jacken selbst so knapp zu schneidern, wie es die Regeln irgendwie zuließen. Das technische Repertoire veränderte sich natürlich durch den deutlich erschwerten Ärmelgriff. Es wurden vermehrt Beingreiftechniken gemacht - die gab es zwar schon lange vorher, wurden aber erst in dieser Zeit wieder populärer - es wurde mehr mit Doppelreversgriff und "unorthodoxen Griffarten" gekämpft und der Griff in den Gürtel wurde häufiger. Auf die schnelle habe ich einen Kampf der WM 1987 gefunden, bei dem dies schön zu sehen ist. http://www.judovision.org/?p=5084

Nach der Verlängerung/Verbreiterung der Ärmel kamen Sode-tsuri-komi-goshi (z.B. durch Koga) auf, Techniken, die ebenfalls nicht neu waren, aber jetzt erst wieder im Wettkampf in größerem Umfang möglich wurden.

Wo wir dabei sind: die größere Materialdicke am Revers vieler Anzüge (vulgo: "Panzerjacken") erschwerte in der Folge z.B. Morote-seoi-nage immer mehr, bis jetzt die Notbremse gezogen wurde, und die Materialdicke begrenzt wird. Interessant ist eine diesbezügliche Äußerung von Isao Okano
For some time, I have felt there is something wrong with today’s judogi. It is because when you get into them, you don’t get a feeling of “looseness” or “roominess.” To give one example, when I’m giving lessons on Seoinage, I can’t even maneuver my wrist grabbing my opponent’s collar because there isn’t enough room, and that shouldn’t be. If things go on this way, we’ll no longer be able to use this most basic of judo techniques, and it will be impossible to practice real judo.
ich hab es hier http://www.dasjudoforum.de/forum/viewto ... f=1&t=5507 ins Forum gestellt, damit die Diskussion über die anderen Passagen dort geführt werden können.

Auf eine Sicht von einigen Jahren beeinflusst das Material die Häufigkeit der Anwendung von vielen Wurftechniken sehr deutlich.
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