Miura über Jujutsu (von ca. 1894)

Hier geht es um die Geschichte und um Traditionen des Judo
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tutor!
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Miura über Jujutsu (von ca. 1894)

Beitrag von tutor! »

Ich bin zufällig auf einen interessanten Text von K. Miura gestoßen. Dieser Text ist deshalb so interessant, weil Miura nicht nur ein Sudent der Tenjin-shinyo-ryu unter Keitaro Inue war, sondern auch der Dolmetscher von Prof. Dr. Erwin Bälz, bei dem er Medizin studierte. Heiko Bittmann zu Folge ist Miura das mögliche Bindungsglied zwischen Jigoro Kano, den er vom Training im Dojo von Inure kannte, und Erwin Bälz, bei dem er studierte.

Ich bin sicher, dass Reaktivator diesen Text ebenfalls kennt und vielleicht noch ergänzende Anmerkungen machen kann.

Hier der etwas verstümmelte Text (Probleme mit Umlauten), ich werde mich aber um eine bessere Version bemühen und beizeiten ersetzen:

---------Quelle: http://www.archive.org/stream/mitteilun ... t_djvu.txt -----

274 K. MIURA, ÜBER JUJUTSU.

leyasu), und soll das Yawara erfunden haben ; er hiess daher auch
Jüjutsu.

Nach der Angabe des Directors Ino2ie Keltarö, welcher uns
heute diese Ringkunst vorführen wird, ging ein Mann, aus Hizen,
Akiyama SJiiröbci (^LÜlZ^^Ii^^) genannt, zur Zeit der Ming-
Dynastie (1368- 1662) nach China, um dort Medicin zu studieren,
und hörte jeden Tag in der Nähe seiner Wohnung einen sonder-
baren Lärm. Als er danach fragte,, bekam er die Antwort, es
sei die Übung von " Hakuden." Er wollte gern sehen, was das
wäre, es wurde ihm jedoch nicht erlaubt zuzuschauen, ehe er selbst
ein Schüler geworden wäre. Seine Neugierde wurde immer leb-
hafter, und er entschloss sich daher, lieber in diese Schule einzu-
treten, als Medicin zu studieren. Darauf übte er diese Kunst 3 Jahre
lang und lernte 3 Arten von Griffen. Als er später nach Japan
zurückkam und seine Kunst anderen Leuten lehren wollte, waren
seine Schüler bald mit jenen 3 Griffen vertraut, und es wollte sich
niemand weiter mit dieser Kunst beschäftigen. Shiröbei entschloss
sich daher, weitere Methcvden zu ersinnen; er fastete 21 Tage
lang im Tempel Dazai-Tenjin {-k.'^Jiy^ und vermehrte die Zahl
der Griffe auf 300. Es war Winter, und am 21. Tage seines Fastens
trat ein starker Schneefall ein ; als er in den Garten sah, waren
fast alle Bäume unter der Last des Schnees gebrochen, nur der
Weidenbaum widerstand wegen seiner Elasticität, und daher soll
er seine Methode TensJiin SJiinyöryü (^if»$Äf;§öit> genannt haben
{Tens hin oder 7>/(/'/;/ Name des Tempels, .f/;//^ = wahr, j(?== Weide,
ryü — Methode).

Welche von diesen Überlieferungen die richtige ist, lässt sich
schwer entscheiden, doch geht aus allen diesen Angaben hervor,
dass das Jüjutsu wahrscheinlich chinesischen Ursprungs ist und seit
etwa 250 Jahren systematisch bei uns getrieben wird. Was vor
dieser Zeit existierte, wurde nicht Jüjutsu genannt.

Es existiert jetzt eine grosse Zahl von Schulen des Jüjutsu,
Darunter scheinen Takcnoiichi-ryu {^^/^, RyöisJiintö-ryü (^^'d»
%^, Shibiikazva-ryTi (fit^HIi^lt) und Kitö-ryü (g§ij;)fti die ältesten
zusein. Ausserdem giebt es SekigucJii-ryü (lißPiTtt). YösJiin-ryTi
(?if't!i»Öft). TensJiinyöshin-ryü (^ipf |"^'Ci>öfe) und viele andere.

Worin besteht nun Jüjutsu oder Yawara }

Das Wort Jitjutsit bedeutet so viel wie " weiche " oder " weich-



K. MIURA, ÜBER JUJUTSU. 2/5

elastische Kunst'"' und weist schoii darauf hin, dass man mit möo--
liehst wenig Kraftaufwand seinen Gegner zu überwinden sucht.
Zu diesem Zweck dienen folgende Mittel.

1. Man sucht sich die Kräfte des Gegners nutzbar zu machen,

2. Man sucht den Angriffen des Gegners auszuweichen.

3. Beim Ringen sucht man die Stellung des Gegners möglichst
(ungünstig zu gestalten und zugleich seine eigene aufrecht zu er-
halten,

4. Beim Angreifen sucht mau den schwächsten Punkt des Geg-
ners auf.

5. Zum Umwerfen des Gegners benutzt man hauptsächlich
die Hebelwirkung.

6. Zum Festhalten des niedergeworfenen Gegners werden
Gelenkhemmungen, Druck auf schmerzhafte Stellen u. dgl. in
Anwendung gebracht.

7. Bei manchen Angriffen sucht man den Feind durch Stoss
oder Schlag auf bestimmte Körperteile in Ohnmacht zu ver-
setzen.

8. Daher wird auch gelehrt, wie man einen Ohnmächtigen
wieder beleben kann.

Demnach zerfällt die Kunst des Yawara in 4 Hauptarten :

1. Randori (JLlS) oder Ringen ohne bestimmte Ordnung,
dient zur Übung des Körpers und zur Übung der unter No. i — 6
aufgezählten Regeln.

2. Kata (J^) oder typische Griffe. Dieselben dienen zu dem-
selben Zweck, doch sind hier specielle Umstände vorausgesetzt,
sodass man in bestimmter Reihenfolge systematisch vorgeht.

3. Atenii C^J^) oder auch Sappö (^^) genannt : die Methode,
den Gegner in Ohnmacht zu versetzen oder sogar zu tödten.

4. KwatsiL (^g) : die Methode, den Ohnmächtigen wieder zu
beleben.

Ich werde diese Methoden im Folgenden etwas genauer be-
schreiben.

1. Randori dLH).

Dies ist eine Art Ringen, wobei man den Gegner umzuwerfen
und ihn dann unbeweglich festzuhalten sucht. Je nach den ver-



2/6 K. MIUKA, ÜBER JUJUTSU.

schiedenen Schulen hat man selbst für dieselben Methoden ver-
schiedene Namen, und in alle diese Einzelheiten einzugehen würde
zu weit führen. Ich beschränke mich daher hier auf die wichtig-
sten Griffe. Vorher möchte ich aber mit einigen Worten auseinan-
dersetzen, wie wir stehen können, wann wir umfallen, und wie wir
einen andern zum Umfallen bringen können. Wir wissen, dass das
Stehen des Menschen ohne grosse Muskelanstrengung nur dann
möglich ist, wenn die vom Schwerpunkt des Körpers gezogene
Lotlinie innerhalb derjenigen Fläche fällt, welche durch die äussere
Begrenzung der Fusssohlen gegeben ist. Der Schwerpunkt des Kör-
pers liegt beim geraden Stehen nach Mayer im zweiten Kreuzbein-
wirbel, nach Braune und Fischer mehr nach vorn über der Verbin-
dungslinie der beiden Hüftgelenke, und die Lotlinie, welche durch
den Schwerpunkt geht, fällt nahe dem hinteren Rand der erwähn-
ten Unterstützungsfläche. Macht man die Entfernung der Füsse
weiter, so wird dementsprechend die Unterstützungsfläche breiter,
und bei verschiedener Stellung des Körpers ändert sich die Lage
der Schwerlinie zur Unterstützungsfläche ebenfalls in verschiedener
Weise. Sobald nun die Schwerlinie ausserhalb der Unterstützungs-
fläche fällt, muss der Körper fallen. Bei allen japanischen körper-
lichen Übungen ist es Hauptprincip, den Körper gerade zu halten
und, wie man sagt "die Kraft im Nabel oder im Unterleib zu con-
centrieren," d. h. das Zwerchfell in den mittleren Stand zu ver-
setzen und sowohl die Bauch- als auch die Rückenmuskeln zu
spannen und so die Lage der Schwerlinie aufrecht zu erhalten.
So wird auch beim Jojutsu viel Gewicht darauf gelegt, den Leib in
allen Lagen aufrecht zu halten und " die Kraft im Nabel zu concen-
trieren." Um andererseits den ruhenden Schwerpunkt des Gegners
in Bewegung zu setzen, sucht man durch kleine Körperwendungen,
durch leichten Zug oder Druck, durch Beugung oder Streckung der
Glieder, welcher der Gegner folgen wird, die Lage der Schwerlinie
des Gegners so zu ändern, dass dieselbe nahe der ßegrenzungslinie
der Unterstützungsfläche zu liegen kommt. Auch sucht man
dadurch gewisse Muskeln des Gegners zu erschlaffen, oder man
wartet den Moment ab, wo die Unterstützungsfläche des Körpers am
kleinsten ist, d.h. wo der Körper nur auf einem Beine ruht. Letzteres
kann man dadurch erreichen, dass man den Gegner durch Anziehen
zum langsamen Schreiten zwingt u. dgl.



K. MIURA, ÜBER JUJUTSU. 277

Was weiter zur Wirkung kommt, ist hauptsächlich die Hebel-
wirkung-, unterstützt durch Druck und Zug. Nehmen wir
einige Beispiele, so wird z. B. beim Noborikake ('^#) erst der
Gegner an sich gezogen und zum Schreiten gezwungen, und in
dem Moment, wo die Schwere des Körpers auf einem Beine ruht,
wird der rechte Oberschenkel des eigenen Beins an die Aussen-
fläche des linken Oberschenkels des Gegners gelegt, und indem
man dies als Hypomochlion benutzt, wird am rechten Ärmel
o-ezogen und zugleich an der linken Schulter gedrückt. So wird
der Körper des Gegners in zwei Hebelarme umgewandelt und
um den Oberschenkel herum gedreht, sodass er fallen muss. Beim
Ashiliarai i&j^i wird die Plantarflache des Fusses an die Aus-
senseite des Unterschenkels gelegt und der Gegner ebenfalls am
Ärmel gezogen und von der entgegengesetzter Seite gedrückt.
Auch hier wirkt der Fuss als Hypomochlion, um welches der Kör-
per gedreht wird. In diesen beiden Fallen bildet der Rumpf und
das Bein vermöge der Gelenkhemmungen einen ziemlich steifen
Hebel, welcher durch Anlegen des Oberschenkels resp. des
Fusses in zwei Arme geteilt wird. Nun sind die Muskeln des
Körpers hauptsächlich an der vorderen und hinteren Fläche des-
selben angeordnet, und bewirken Beugung und Streckung, sowie
durch einseitige Wirkung seitliche Bewegungen. Nach den dia-
gonalen Richtungen aber, d. h. von links hinten nach rechts
vorn, oder von links vorn nach rechts hinten, entfalten sie nur
ganz schwache Wirkungen, und daher soll sowohl der Zug als
auch der Druck ausschliesslich in dieser Richtung geschehen.
Ausserdem soll nicht etwa in gerader Richtung, sondern in bogen-
oder schraubenförmiger Linie gezogen und gedrückt werden ; denn
wenn man einen Hebel um den Unterstützungspunkt dreht, so
beschreibt seine Spitze immer einen Bogen oder einen Kreis, und
in den angeführten beiden Fällen bezwecken wir nicht nur eine
Drehung des Körpers um seine Querachse, sondern auch zugleich
eine solche um seine Längsachse.

Nehmen wir jetzt ein anderes Beispiel, so wird beim Küshiguriima
K^%) der Körper des Gegners dadurch in zwei Hebelarme verwan-
delt, dass man ihn über die Lendengegend legt und drehend darüber
hinweggleiten lässt. Man wird dabei also sozusagen von dem An-
greifer auf den Rücken gelegt und nach dereinen Seite hin abgesetzt.



2/8 K. MIURA, ÜBER JUJUTSU.

Es g-iebt noch unzählig'e andere Methoden, welche alle zu
ihrem Princip Hebelwirkung', Druck und Zug" in der erwähnten
Weise haben, doch darauf genauer einzugehen würde zu umständ-
lich sein ; ich muss mich hier daher auf die wichtigsten Züge des
Randori beschänken. Hierbei lernt man auch die Kunst des
Umfillens, d. h. man übt sich darin, wie m.an am besten fallen
muss, ohne sich zu verletzen, falls man umgeworfen wird. Für
gew^öhnlich schlägt man mit dem Handteller auf den Boden,
bevor der Körper denselben berührt. Hierdurch wird der Körper
elastisch vom Boden abgehoben, ähnlich wie ein Gummiball,
und der Kopf berührt den Boden nicht. Beim Aufstehen schlägt
man auch wolil mit der Ferse eines l^usses auf den Boden, um
auch hierbei eine gewisse Elasticität zu gewinnen.

Im Obigen habe ich ausschliesslich vom Umwerfen des Geg-
ners gesprochen, doch begnügt man sich nicht immer damit, son-
dern man sucht ihn auch festzuhalten, sodass er sich nicht rühren
kann. Diese Methode nennt man Katauie oder Shiiiie ; sie besteht
darin, dass man ihn am Halse schnürt, oder ihm einen Körperteil
torsiert oder so fest hält (meist mittelst Gelenkhemmungen), dass
schon geringe Bewegung ihm heftige Schmerzen verursacht, oder
dass man ihn in Ohnmacht versetzt, wie es beim Schnüren des
Halses öfters vorkommt. Danach unterscheidet man auch Nage-
shöbu (J^^M) und Shimc-shöbu (i^>#ft), d. h. Entscheidung
des Siemes durch Umwerfen oder durch Festhalten.



'fe'



II. Kala (?^)

Dies ist eine in gewisser Ordnung und Reihenfolge auszu-
übende Angriffs- und Vertheidigungsweise, wobei Umwerfen,
Fixieren und Schlag oder Stoss auf gewisse Körperteile in An-
wendung gebracht wird. In Wirklichkeit werden beim Üben
Schläge und Stösse natürlich nur angedeutet und nicht wirklich
ausgeführt. Da solches immerhin mit einiger Gefahr verbunden
ist, so hat man dabei eine gewässe Reihenfolge und Ordnung
der Griffe festgesetzt. Bei der Übung beteiligen sich zwei oder
mehrere Personen ; wenn es zwei sind, so ist der eine activer
Angreifer und der andere passiver Verteidiger, aber während
des Angriffes wird der erste Angreifer passiv und daher muss



K. MIURA, ÜBER JUJUTSU. 2/9

dieser immer der geübtere sein, da er den Angriff des Vertei-
dio-ers auszuhalten hat. Man kleidet sich hier wie bei allen
Übuncren des Yawara mit einem dicken, baumwollenen und, um
Zerreissen zu vermeiden, gestickten Mantel ; beim Kata trägt
man auch Hakama (weite Hosen), während man beim Randori
nacktbeinig zu sein pflegt.

Bei der Übung von Kata steht also eine active und eine
passive Person sich gegenüber ; sie verbeugen sich gegenseitig
und der active Teil greift mit einem Ruf den Gegner an, dieser
aber weicht in diesem Augenblick durch geschickte Körperwen-
duno- etc. dem Angriff aus. greift activ jenen an, wirft ihn nieder,
fixiere ihn, deutet eventuell einen Schlag oder Stoss an und lässt
ihn erst los, wenn er mit der Hand oder mit dem Fuss auf den
Boden schlägt. Dies ist auch in anderen Fällen ein Zeichen der
Unterwerfung. Hierdurch lernt man specielle h'älle des Angriffs
und der Verteidigung kennen, und durch Combination und Modi-
hcation der Methoden kann man sich in allen Lagen zurechtfinden.
Beim Kata sind repräsentiert : Verteidigung beim Angriff im
Sitzen, im Stehen, beim Zusammentreffen, beim Angriff mit Schlag
oder Stoss, l.eim Angriff von hinten, bei bewaffnetem und un-
bewaffnetem Angriff und entsprechender Verteidigung u. s. w.

Man könnte natürlich unzählige Fälle ausdenken und dement-
sprechend unzählige Methoden angeben, doch hat man zum Un-
terrichte nur wichtigere Fälle ausgewählt. Man beginnt mit der
leichteren Methode und geht zur schwierigen über, und danach
hat man bei Tenshin Sliinyö-rylt z. B. sechs Hauptabteilungen,
welche ihrerseits aus zahlreichen Griffen bestehen. Diese sechs
Arten sind :

1. Tehodoki{^^^ F ^ ) d. h. Anfangsgründe des Kata.

2. SJiodan (^15:). Kata der unteren Klasse.

3. CJüidan (4« Ix). Kata der mittleren Klasse.

4. Sliiai-7ira (ffc^^), rückseitiger Angriff.

5. Nagesiite (^1^^), Wegschleudern.

6. Jödan (±|^), Kata der oberen Klasse.

In anderen Schu'en unterscheidet man Idori (^H) und
Tachidori [^M), je nachdem die Übung im Sitzen oder im Stehen
geschieht. Andere unterscheiden wieder Urakata i^j^) und



28o K. MIURA, ÜBER JUJUTSU.

Omotekata (^^), d. h. Kata der zug-ekehrten und der abgekehrten
Seite, je nach der Form der Griffe.

Ich beschränke mich liier auf die Grundzüge und allgemeine
Beschreibung des Kata und gehe nicht auf die einzelnen Griffe
ein, da dieselben nicht durch Beschreibuno^en, sondern nur durch
Sehen oder noch besser durch eigene Übungen verstanden werden
können.

Hier ist noch eine Modification von Kata kurz zu erwähnen,
welche in der letzten Zeit von Director Inoue unter dem Namen
Goshinjntsii (|^^fil5), " Körperschützkunst," in die Praxis ein-
geführt worden ist. Diese Methode bezweckt ähnlich dem Kata
Übungen im Angriff und in der Verteidigung, ist jedoch bedeutend
vereinfacht und zum gleichzeitigen Unterricht vieler Personen,
sowie zur Übung in gewöhnlicher Kleidung (auch in europäischer)
eingerichtet. Da ich mich hierin eingeübt habe, kann icli aus
eigener Erfahrung die Erlernung dieser Methode einem jeden
empfehlen, der nicht nur seinen Körper kräftigen will, sondern
auch Mut und Geistesgegenwart durch geeignete Pflege aus-
zubilden wünscht.



III. Alemi oder Sappö (##p^^x?i)-

Wenn man gleichzeitig von vielen Feinden angegriffen wird,
so würde man kaum im Stande sein, dieselben alle umzuwerfen,
und man würde schliesslich durch die Überzahl besiegt werden.
In solchem Falle ist es absolut notwendig, die Feinde durch Schlag
oder Stoss auf wichtige Körperteile in Ohnmacht zu versetzen
oder eventuell sie zu tödten. Dazu dient Atemi oder Sappö, d. h.
die Methode des Tödtens durch Schlag oder Stoss. Hierüber und
über Kwatsu wurde schon im i6. Jahre Meiji (1883) von Herrn
Prof. Dr. Osawa .«^enior in der Zeitschrift Gakiigci Shirin (»^^
'MV^) jßd. 15, S. 371 genauer berichtet, und ich folge, was Atemi
betrifft, teilweise dieser Arbeit.

Atemi wird ausgeführt durch Schlag oder Stoss mittelst
der Faust, des Ellbogens, des Knies und des Fusses, oder
mittelst der Ulnarseite der Hand u. dgl., und zwar an folgenden
Stellen des Körpers. Am Kopfe entspricht Tcntö (^M) der
Stelle, wo die Coronal- und Sagittalnath zusammentreffen. Udo



K. MIURA, ÜBER JUJUTSU. 28 1

(.'^ ^) entspricht der Nath zwischen Stirnbein und Nasenbein.
Kasnmi f^) entspricht der Schläfe, und AV;z^/^?7 (A^') der Stelle
unterhalb der Nase zwischen dieser und dem Munde. — Ein Schlag
auf die genannten Stellen ruft Commotio cerebri und starken
Schmerz hervor.

Gegen die Brust gerichtet sind Karishita (J^T) : Umgebung
der Mammae; S/iö/iö (»pij): unteres Ende des Corpus sterni.
und Snigetsn CtK^)- unteres Ende des Processus xyphoideus
sterni (wird als besonders wirksame Stelle angesehen). Die Mitte
des Sternums wird noch als DancJni (®4*) unterschieden.

Die Erschütterung des Brustkorbes wirkt nach den Experi-
menten von Meola, Riedinger und Reineboth dadurch gefährlich,
dass die Gefässe der Lunge erweitert und die Blutzufuhr zum
linken Ventrikel des Herzens beschränkt werden, sodass ein
Sinken des allgemeinen Blutdrucks zu Stande kommt. In anderen
Fällen wirkt der Stoss direkt aufs Herz, Zwerchfell oder die
Leber und wird dadurch schädlich.

Auf dem Rücken stösst man auf den 6. oder 7. Brustwirbel ;
die Stelle wird Denkö Mitsuatari ( ^ 7t H i^ "^ V ) genannt. Wahr-
scheinlich wirkt hier ein Stoss ähnlich wie ein Stoss auf die schon
genannten Stellen der Brust, oder durch Erschütterung des
Rückenmarks und Sistiren der Athmung.

Am Bauchteil unterscheidet man die Stelle unterhalb des
Rippenbogens rechts als Lnazuma (;^^), dieselbe Stelle links als
Tsitkikage (.^f^), dann eine Stelle unterhalb des Nabels als
Myöjö (a/]M)- Stoss auf diese Teile wirkt entweder ähnlich dem
Goltz'schen Klopfversuch durch Erweiterung der Gefässe in den
Baucheingeweiden, oder durch Vermittlung von Leber und Milz
aufs Zwerchfell.

Sehr wichtig sind noch, Tsitrigane (^^J^) oder die Hoden,
welche durch Stoss oder Schlag mittelst des Fusses, Knies oder
der Faust luxiert oder gequetscht werden. Wir wissen aus der
Chirurgie, dass sowohl die Luxatio als auch die Contusio testis
Ohnmacht, Erbrechen, Athem.not etc. hervorrufen, ohne dass man
nach dem Tode bedeutende Veränderungen finden kann. Daher
werden die Hoden bei der Übung von Kata mit den Händen ge-
schützt.

Ausser den genannten Stellen, welche beim Hervorrufen von



282 K. MIURA, ÜBER JUJUTSU.

Ohnmacht durch Schlag oder Stoss in Betracht kommen, gleht es
noch solche, welche wegen ihrer Schmerzhaftigkeit bei Druck
zum Festhalten des Gegners in Anwendung gebracht werden.
Diese sind : Dokko (i^§[^), unterhalb des Ohres zwischen dem
Unterkieferast und dem Proc. mastoideus, wegen ihres Nerven-
reichtums bei Druck schmerzhaft ; Shahitaku (/^^), an der
Streckseite des Vorderarms, wirkt durch Druck auf den Nervus
radialis; und Kusajinbiki (^^), am Musculus gastrocnemius,
wirkt durch Druck auf den Nervus tibialis. — Endlich noch Hichü
(?i54')' zwischen den Ansätzen der Musculi sternocleidomastoidel
am Sternum, entsprechend der Trachea ; Matsitkaze (fö^), rechts,
und Murasame (#]^) links oberhalb des Musculus omohyoideus.
Dieselben kommen hauptsächlich bei der Strangulation in Betracht.



IV. Kwalsu oder Kwappo (rSr*).

Dies ist die Methode, einen Ohnmächtigen wieder zu beleben.
Es ist nichts anderes als eine Art künstlicher Respiration, nur mit
dem Unterschiede, dass man bei Kwatsu nicht wie bei der gewöhn-
lichen künstlichen Respiration gewisse Manipulationen in regel-
mässiger Reihenfolge wiedei^iolt, sondern dass man sich meist
mit einem einfachen Stoss, Schlag oder Druck begnügt, oder höch-
stens die Manipulationen nur einige Male wiederholt. Hierbei
wirkt man auf die Brustorgane entweder von vorn oder von hinten
durch Druck oder Stoss, manchmal auch vom Unterleibe her auf
das Zwerchfell. War der Hoden luxiert, so reponiert man ihn
zuerst, bevor man zur künstlichen Respiration übergeht.

Kwatsu ist nur anwendbar innerhalb der ersten zwei Stunden
nach Beginn der Ohnmacht. Bei Scheintod, welcher länger
als zwei Stunden gedauert hat, ist wenig Hoffnung auf Wieder-
belebung. Um Scheintod von wirklichem Tode zu unter-
scheiden, hat man verschiedene Methoden angegeben. So ist
ein Ohnmächtiger, dessen Augäpfel nach der einen oder andern
Seite verdreht sind, oder dessen Pupillen noch erweitert sind, noch
zu retten. Ferner deutet es auf das Vorhandensein des Lebens,
wenn ein Spiegel bei der Annäherung desselben an den Mund
oder die Nase sich trübt, oder wenn die Oberfläche des Wassers



K. MIURA, ÜBER JUJUTSU. 283

sich bewegt, welches in ein Tellerchen gegossen und auf die
Herzgegend des Betreffenden gestellt wird u. dgl.

Folgende Darstellung ist eine directe Übersetzung von dem,
was Herr Prof. Dr. K. Osawa im Gakugeishirin nach den Angaben
des Directors Inoue Keitarö beschrieben hat, worunter auch einige
Wiederbelebungsmethoden, die speciell für das Jüjutsu nicht in
Betracht kommen.

1. Sasoi kwappö (|f ig^) oder die (die Athmung) hevorlockende
Methode. Man setzt den Scheintodten aufrecht, legt die linke Hand
auf die Brust und drückt mit dem rechten Handteller die Gegend
des 4. — 5. Brustwirbels, sodass eine Expiration hervorgerufen
wird. Oder man setzt das rechte Knie auf die genannten Wirbel
und legt den Kopf des Betreffenden auf die eigene Brust, legt die
beiden Hände auf die musculi pectorales und drückt von vorn und
hinten gleichzeitig auf den Thorax.

2. Eri-kwappij (^^igfi ; £^rz'=Hals oder Nacken).

Man setzt sich auf die rechte Seite des Ohnmächtigen, legt
den linken Arm von hinten her um den Hals, setzt ihn aufrecht,
legt die Finger der rechten Hand etwa 3 Zoll unterhalb des Nabels
direct, so dass die vier Finger und der Daumen die Form eines V
bilden. Nachdem dies geschehen ist, drückt man die rechte Hand
nach oben, wälirend man mit dem linken Arm gleichzeitig Schul-
ter und Nacken nach unten drückt, sodass eine Expiration bewirkt
wird. Auch ein kräftiger Schlag auf den zweiten Lendenwirbel
soll in dieser Beziehung wirksam sein.

3. Innökzvappö (F^fti^^ ; Intiö = Hoden) wird angewendet,
wenn eine Luxation des Hodens in den Leistencanal stattgefunden
hat. Man lässt die Beine strecken und untersucht, ob der Hoden-
sack leer ist oder nicht. Ist er leer, dann legt man die beiden
Arme unter die Achselhöhle des Betreffenden, hebt ihn in die
Höhe und lässt ihn 14—15 Mal sanft auf den Boden fallen, darauf
stösst man mit den Fussspitzen die Gegend des Kreuzwirbels
ebenso oft. Hierauf legt man ihn auf den Rücken, steht reitend
darüber, kniet mit dem rechten Bein, legt die Hände an den
Nacken, kreuzt die Finger, setzt ihn aufrecht, legt die PZlIenbogen
in der Gegend des Proc. xyphoideus zusammen, und indem man
hier drückt, zieht man die Hände am Nacken nach vorn, sodass
dadurch eine Expiration hervorgerufen wird.



284 K- MIURA, ÜBER JUJUTSU.

4. Sö-kivappö {^\^W). d. h. allgemein anwendbare Pele-
bungsmethode. Man legt den Schcintodten auf den Rücken, legt
die beiden Hände drei Zoll unterhalb des Nabels und drückt nach
der Brust zu. Eine Modification hiervon besteht darin, dass man
die Hände in die beiden fossae iliaceae legt und nach der Brusthöhle
zu drückt. Auch hierdurch wird eine Expiration hervorgerufen.

5. Dekishi-kwappö (jü^igi'ä), d. h. Belebungsmethode für
Ertrunkene. Ist es eine männliche Person, so legt man sie auf
den Bauch, ist es eine weibliche, auf den Rücken. Man schiebt
dann ein weiches Kissen unterhalb der Lendengegend resp. unter-
halb des Nabels, knetet und streicht von unten nach oben und
übt Sö-kwappö, wie es eben beschrieben wurde. Bevor man jedoch
dazu schreitet, stopft man alle Körperöffnungen mit Ausnahme des
Mundes, um das Ausflicssen von Excrementen und Schleim zu
verhüten. Man thut gut, wenn man dabei auch die Brust und den
Leib erwärmt.

6. EssJii-kivappö (^^iSf^). d. h. Belebungsmethode für Er-
hängte. Der eine hält den Erhängten an der Brust oder dem Bauch
mit den Armen, indem ein anderer den Strick löst. Sobald dieser
lose geworden ist, drückt der erstere Brust resp. Bauch des Ya-
hängten stärker und nimmt ihn herunter. Man legt ihn auf den
Rücken, stopft alle Körperöffnungen und verfährt nach Sö-kwappö.

7. Darakii-kzvappö (iSi^iS^i)- Belebungsmethode für Herun-
tergefallene. Man bringt den Körper des Betreffenden in eine
hockende Stellung, indem man um den Nacken und die Kniekehle
eine Binde legt, darauf wird Eri-kwappö ausgeführt, nachdem man
alle Körperöffnungen verstopft hat.

Bei Hunger- und Erfrierungstod, sowie in allen anderen
Fällen wird Sö-kwappö in Anwendung gebracht.
I founded a new system for physical culture and mental training as well as for winning contests. I called this "Kodokan Judo",(J. Kano 1898)
Techniques are only the words of the language judo (Cichorei Kano, 24.12.2008)
Gast

Re: Miura über Jujutsu (von ca. 1894)

Beitrag von Gast »

In diesem Zusammenhang vielleicht interessant: Hinweis über eine Jiu-Jitsu Büchersammlung im Internet

http://hoploblog.wordpress.com/2010/12/ ... -internet/
Reaktivator
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Re: Miura über Jujutsu (von ca. 1894)

Beitrag von Reaktivator »

Gast hat geschrieben:In diesem Zusammenhang vielleicht interessant: Hinweis über eine Jiu-Jitsu Büchersammlung im Internet

(...)
Lieber "Gast": Der von "tutor!" zitierte Artikel findet sich dort doch gar nicht... :dontknow
Ein Forenmitglied ohne Signatur ist wie ein Forenmitglied ohne Namen.
(Alte Internet-Weisheit, frei nach "Reaktivator")
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Re: Miura über Jujutsu (von ca. 1894)

Beitrag von derLichtschalter »

Unser Gast möchte wohl (nicht nur in diesem Faden) ein wenig Werbung für seinen - zugegebenermaßen auf den ersten Blick gar nicht so uninteressanten - Blog machen.
judoplayer
Orange Grün Gurt Träger
Orange Grün Gurt Träger
Beiträge: 58
Registriert: 07.01.2009, 01:00

Re: Miura über Jujutsu (von ca. 1894)

Beitrag von judoplayer »

Der Vortrag von K. Miura findet man im "Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, Band 7"
und kann im original (digital) hier gelesen werden (ab Seite 273): http://www.oag.jp/digitale-bibliothek/djvu/1172/1246/ .

Original Titel: "Über JUJUTSU ODER YAWARA. VON K.MIURA. (Vortrag, gehalten beim 25 jährigen Jubiläum der Gesellschaft, am 29.October 1898.) "
Viele Grüße

Judoplayer
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