Wer war eigentlich Kanos Uchi Dechi

Hier geht es um die Geschichte und um Traditionen des Judo
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Beitrag von Reaktivator »

Leider kupfern in Deutschland immer viele unkritisch voneinander ab - und auf diese Weise werden Fehler kolportiert und Vorurteile gefestigt.

Für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte des Kōdōkan und der Geschichte des Jūdō sind nun einmal japanische Sprachkenntnisse unverzichtbar.

Und um damit wieder die Verbindung zum Ursprungsthema herzustellen - der Kanō-Nachfolge:

Wo z.B. findet sich denn in englisch- (oder gar deutsch-?) sprachigen Veröffentlichungen ein Hinweis darauf, daß unmittelbar nach Kanōs Tod zunächst Takeshi Takarabe an die Spitze des Kōdōkan rückte?
Lin Chung
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Beitrag von Lin Chung »

Na hier und heute :D
Grüße
Norbert Bosse
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Beitrag von Reaktivator »

Na gut, dann "hier und heute" noch einige Ausführungen zum Thema "Kanô-Nachfolge":

Trotz einiger anderslautender Gerüchte (hauptsächlich im englischsprachigen Raum), ist seit langem bekannt, daß Kanô selber niemanden zu seinem Nachfolger auserkoren hatte - auch nicht einen seiner früheren "Uchideshi". (Siehe dazu z.B.: IIZUKA, Ichiyo: Jūdō o tsukutta otokotachi. Kanō Jigorō to Kōdōkan no seishun. Tōkyō: Bungei Shunjū 1990: S. 206)
Über die Gründe dafür (sowie auch über potentielle Kandidaten für seine Nachfolge) ist viel spekuliert worden.

Weil, wie bei so vielen Dingen in Bezug auf die japanische Geschichte, Kultur und Gesellschaft, auch die richtige Einordnung des "Uchideshi"-Begriffes nicht ganz so einfach ist, wie manche Leute sich das vielleicht vorstellen oder zumindest wünschen, hier noch einige Anmerkungen, die auf den ersten Blick etwas "offtopic" erscheinen mögen, vielleicht aber zu einer etwas differenzierteren Betrachtungsweise beitragen:

Darauf hinzuweisen, daß sich die japanische Gesellschaft im Laufe der letzten ca. 150 Jahre z.T. drastisch verändert hat, hieße Eulen nach Athen zu tragen - und würde hier auch zu weit führen. Deshalb soll hier nur ein Punkt herausgegriffen werden:

Alleine in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg traten viele gesellschaftliche Veränderungen ein, die einen Bruch mit alten Traditionen bedeuteten. Dazu gehörte z.B. die Herausbildung der "Kernfamilie", die u.a. einherging mit der fast völligen Auflösung des früheren "Uchideshi"-Systems.
War Japan in dieser Zeit hautpsächlich auf den Wiederaufbau (1950er und frühe 1960er Jahre) und die Mehrung des wirtschaftlichen Wohlstandes (späte 1960er und 1970er Jahre) fixiert, so setzten in den 1980er Jahren gleich mehrere auch für den Budô-Bereich bedeutsame Entwicklungen ein - die zwar auf den ersten Blick völlig unterschiedlich determiniert waren, die aber im Ergebnis beide zu den gleichen tiefgreifenden Änderungen führten, die seit den 1990er Jahren in der japanischen Kampfsport-/Kampfkunst-Szene zu beobachten sind:

1) Gestärkt durch den wirtschaftlichen Erfolg strebte Japan ab Mitte der 1980er Jahre (etwa ab Amtszeit von Yasuhiro Nakasone) auch eine stärkere politische Rolle an und es bildete sich so etwas wie ein "neuer Nationalismus", der dazu beitrug, die bekannten Disziplinen wie vor allem Jūdô und Karate wieder in großem Stil salonfähig zu machen. Über lange Zeit hinweg waren bis dahin Kampfsportler in die ultrarechte Ecke gestellt worden - oder hatten ja auch wirklich dort gestanden. Nicht vergessen war in den Jahrzehnten nach Kriegsende die Instrumentalisierung des Budô-Bereiches in der Vorkriegszeit im Sinne einer "Wehrerziehung" sowie der Herausbildung und Stärkung patriotischer Tugenden. Hinzu kamen die bisweilen nicht einmal versteckten Verbindungen zu den ebenfalls als ultranational geltenden Yakuza - sowie auch das diesem Klischee durchaus entsprechende rüpelhafte Auftreten vieler Jūdô- und Karate-Studenten in der Öffentlichkeit. Vergleichbar mit unseren heutigen "Skinheads" wurden sie vielerorts nicht gerne gesehen - und lieber wechselte "Otto Normaljapaner" die Straßenseite, wenn er eine gröhlende Horde kurzrasierter Blumenkohlohr-Träger (Übrigens so etwas wie der japanische Schmiß!) ankommen sah.
Dies alles änderte sich nun - unterstützt auch von Comics und Fernsehserien wie z.B. "Yawara" etc. (Heutzutage finden sich sogar in der Jūdô-Nationalmannschaft Jünglinge mit modischen Langhaarfrisuren, gefärbten Haaren, Stoppelbärten und anderen Ausdruckselementen ihrer Individualität).
"Budô" war zwar jetzt wieder "in" - aber zuviel Schwitzen und körperliche Anstrengung mußte ja nun für den mittlerweile doch recht verwöhnten jungen Durchschnittsjapaner auch nicht sein, so daß viele nach "Nischendisziplinen" suchten, die sie dann zwar wieder zu traditionsbewußten Söhnen Nippons machten, aber ohne die Quälerei, die für Wettkampferfolge nun einmal erforderlich ist. (Selbstredend, daß dies zumeist für das eigene Ego positiv verpackt wurde mit Hinweisen darauf, daß der Wettkampfsport ohnehin das traditionelle Budô degeneriert habe, oder dadurch, daß dem Ganzen noch ein esoterisch-philosophisches Korsett übergestülpt wurde.)

2) Schon ab Anfang der 1990er Jahre war mit dem Zerplatzen der japanischen "Wirtschaftsblase" (Stichwort: "bubble economy") der Traum des Wachstums ohne Grenzen ausgeträumt. Nachdem sich ab Mitte der 1980er Jahre ausländische Politiker und vor allem auch Wirtschaftsvertreter aller Couleur die Klinke quasi in die Hand gegeben hatten (Erinnert aus deutscher Sicht sei an den mit dem damaligen Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff einsetzenden Wirtschaftstourismus, der dazu führte, daß die einen Japan als Modell empfahlen und hier Patentrezepte für die kränkelnde deutsche Wirtschaft zu finden glaubten, während die anderen die Ausbeutung der Arbeitnehmer anprangerten und durch eine Übernahme eben jenes Modells das hiesige Sozialsystem in Gefahr sahen...!), wurde Japan nun auf einmal bestenfalls links liegen gelassen (So sind seitdem - bis heute - die Augen der Welt in Ostasien vor allem auf China gerichtet!) oder aber schlechtestenfalls mit offenem Hohn überzogen (Immer mit dem Finger in der Wunde, daß in Japan eben auch nur mit Wasser gekocht wird.).
Eine Reaktion darauf war die teilweise Herausbildung einer inneren "Wagenburg-Mentalität", einer Einigelung, die zu einer noch stärkeren Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen führte - und zwar entweder auf echte Traditionen, die in der Tat in Vergessenheit geraten waren, oder aber auf idealtypische, im Grunde aber nie vorhanden gewesene Traditionen (japankundliche Soziologen sprechen hier u.a. von sogenannten "invented traditions", also "erfundenen" Traditionen).
In diesem Kontext ist es auch zu sehen, daß die etablierten Budô-Disziplinen in den letzten ca. 10-15 Jahren einen derart starken Mitgliederschwund zu verzeichnen haben (So hat der Japanische Jūdô-Verband mittlerweile nur noch ca. 200.000 registrierte Mitglieder - etwa so viele wie der Deutsche Judo-Bund und nur etwa die Hälfte unserer französischen Nachbarn!): "Modernes Budô" (現代武道 gendai-budô) ist "out", "Traditionelles Bujutsu" (古流武術 koryū-bujutsu) ist auf einmal wieder "in" - während letzteres von den etablierten Jūdô-Leuten über Jahrzehnte als anachronistisch belächelt oder schlichtweg als nicht (mehr) existent ignoriert wurde.

Vor diesem Hintergrund ist auch die teilweise zu beobachtende Rückbesinnung auf das "Uchideshi-System" (内弟子制度 uchideshi-seido) zu sehen.
Googelt man einmal im japanischen WWW, dann stellt man schnell fest, daß nicht nur im Budô-/Bujutsu-Bereich eine (vielleicht durchaus ernsthaft motivierte, vielleicht aber auch eher romantisch verklärte) Sehnsucht danach vorhanden ist, sondern z.B. auch im Bereich der traditionellen Brettspiele (Igo, Shôgi) oder etwa des traditionellen Theaters (Nô).
Eine Sehnsucht, die übrigens - wie überhaupt mittlerweile vieles in dem "traditionellen" Koryū-Bereich - durchaus auch schon kommerziell genutzt und befriedigt wird:
Bekamen in früheren Zeiten die Lehrlinge eine "Ausbildungsvergütung" (zumindest in Form von kostenloser Kost und Logis), so müssen die modernen "Uchideshi" z.T. bis zu 5.000 Euro einmaliger "Annahmegebühr" und dann noch einmal bis zu 1.000 Euro monatlicher Gebühr bezahlen - putzen, waschen, einkaufen, kochen und das Dôjô sauberhalten dürfen sie natürlich trotzdem noch - damit es wirklich "authentisch" ist.....
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