Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Hier geht es um die Geschichte und um Traditionen des Judo
tutor!
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von tutor! »

Ich habe mir in den letzten Tagen einmal aus ganz anderen Gründen die Satzung des DDK angeschaut. Dabei ist mir doch aufgefallen, wie häufig der Begriff "Sport" darin vorkommt.

http://www.ddk-ev.de/images/stories/pdf ... atzung.pdf

So spricht das DDK praktisch durchgehend von Budo-Sportarten, freilich nicht ohne auch den Begriff Kampfkunst unerwähnt zu lassen. Dennoch lautet der satzungsgemäß verankerte Namenszusatz: "Verband der Meisterinnen und Meister und Lehrerinnen und Lehrer für Budo-Sportarten - Verband für Budo-Breitensport" (siehe Link oben).

Wie kann das sein? Was hat das mit unserer Diskussion über den Wandel der Wortbedeutung zu tun?

Die Erklärung ist relativ einfach und möge als Beispiel dienen, wie sich Wortbedeutungen wandeln. Es geht mir also nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem DDK - ich ziele auf Begriffsbedeutungen ab. Das DDK sagt, es (genauer: seine Mitglieder) betreibe Sport. In der Satzung des DJB finden wir, was niemanden überraschen dürfte, auch eine gehäufte Nennung des Begriffs "Sport" und seiner Abwandlungen.

Dies alles hat eine ganz einfache Ursache.

Sport wird gesellschaftlich gefördert: Sportstätten, Zuschüsse, Steuerbegünstigungen usw. kann derjenige (Verein/Verband) erhalten, der förderungswürdigen Sport betreibt. Die politische Lobby hierzu sind die Sportverbände, die auf allen politischen Ebenen (Kommunen/Kreise, Länder, Bund) mit den Verwaltungen und Polizik verhandeln und Förderung aquirieren.

Besonders hilfreich ist es natürlich a) als Sportverein anerkannt zu sein und dieses b) durch eine Verbandszugehörigkeit zu dokumentieren. Ansonsten wird es schwierig, von der öffentlichen Sportförderung unterstützt zu werden.

Aus diesem Grund, muss es Regelungen geben, unter denen Vereine als Sportvereine und Verbände als Sportverbände anerkannt werden können, oder sollte ich vielleicht besser sagen: anerkannt werden müssen? Denn ob jemand in den Genuss einer staatlichen Förderung kommen kann oder nicht, darf nicht von Willkür abhängen, sondern muss zur Not auch einklagbar sein.

Aus diesem Grund ist es wichtig, dass der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) in seiner Satzung festgeschrieben hat, was er als Sport betrachtet und was nicht (http://www.dosb.de/de/organisation/phil ... efinition/). In der Aufnahmeordnung des DOSB steht eindeutig, dass nur Verbände aufgenommen werden können, die Sport im Sinne dieser Definition betreiben (§3 http://www.dosb.de/fileadmin/fm-dosb/do ... ngbuch.pdf).

In §4 der Aufnahmeordnung heißt es übrigens: Verbände, die sich ausschließlich auf die Betreuung eines der folgenden Teilbereiche des Sports beschränken, können nicht aufgenommen werden: ....... d) Vertretung abweichender Stilarten einer bereits im DOSB vertretenen Sportart. Hierin liegt im Übrigen auch begründet, warum das DDK nicht in den DOSB aufgenommen werden kann, woraus dann wiederum alle weiteren Probleme erwachsen. Diese sollen aber nicht Gegenstand dieses Beitrages sein.

Ich wollte nur darstellen, wie politische Bedingungen und finanzielle Interessen Einfluss auf die Entwicklung einer Wortbedeutung nehmen können.
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Fritz
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Fritz »

@tutor: Das sind ganz interessante Gesichtspunkte...

Dabei fällt sofort ins Auge:
DOSB, Aufnahmeordnung, §3 hat geschrieben:3. Die Sportart muss die Einhaltung ethischer Werte wie z.B. Fairplay, Chancengleichheit, Unverletzlichkeit der Person und Partnerschaft durch Regeln und/oder ein System von Wettkampf- und Klasseneinteilungen gewährleisten.

Dies ist nicht gegeben insbesondere bei Konkurrenzhandlungen, die ausschließlich auf materiellen Gewinn abzielen oder die eine tatsächliche oder simulierte Körperverletzung bei Einhaltung der gesetzten Regeln beinhalten.
(Hervorhebung von mir)

Damit hätten heute Fechten u. Judo keinen Anspruch mehr auf Aufnahme.
Fechten simuliert Stichverletzungen, Judo simuliert Armbrüche usw.
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von tutor! »

Fritz hat geschrieben:@tutor: Das sind ganz interessante Gesichtspunkte...

Dabei fällt sofort ins Auge:
DOSB, Aufnahmeordnung, §3 hat geschrieben:3. Die Sportart muss die Einhaltung ethischer Werte wie z.B. Fairplay, Chancengleichheit, Unverletzlichkeit der Person und Partnerschaft durch Regeln und/oder ein System von Wettkampf- und Klasseneinteilungen gewährleisten.

Dies ist nicht gegeben insbesondere bei Konkurrenzhandlungen, die ausschließlich auf materiellen Gewinn abzielen oder die eine tatsächliche oder simulierte Körperverletzung bei Einhaltung der gesetzten Regeln beinhalten.
(Hervorhebung von mir)

Damit hätten heute Fechten u. Judo keinen Anspruch mehr auf Aufnahme.
Fechten simuliert Stichverletzungen, Judo simuliert Armbrüche usw.
Guter Gedanke, ob das mit Simulation so gemeint ist/war, weiß ich nicht, aber Boxen würde auf jeden Fall betroffen sein!

Nochmal nachgedacht und ergänzt: Beim Fechten und beim Judo verhindern die Regeln durch Schutzmaßnahmen (Kleidung, Aufgabezeichen), dass es zu einer Verletzung kommt. Die Verletzung wird daher nicht simuliert (im Sinne von vorgetäuscht), sondern eben verhindert. Bei verschiedenen Formen des Wrestlings sieht das jedoch anders aus. Beim Boxen müsste man wohl fairerweise auch zwischen Amateur- und Berufsboxen unterscheiden.
Zuletzt geändert von tutor! am 15.10.2008, 17:36, insgesamt 2-mal geändert.
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Patrick
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Patrick »

Ich könnte mir vorstellen, dass die Regelung mit der simulierten Körperverletzung besonders solche "Sportarten" wie Gotcha/ Paintball ausschließen soll.
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Fritz
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Fritz »

So wie es da steht, schließt es aber noch mehr aus.

Fechten ist da ein geradezu ins Auge springendes Beispiel, aber auch gerade Judo (mit den Hebeln u. Würgen u. Würfen) bis hin zu
Boxen, Taekwondo (wenn man und bedingt einen "KO" als Körperverletzung ansehen möchte).

Und wie sieht es mit dem kompletten Schießsport aus?
Ok - die schießen auf Scheiben, aber ist so eine Scheibe nicht im weitesten Sinn eine
Gegnersimulation?

Und was ist an Gotcha/Paintball nun "unsportlicher" als am Fechten?
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von tutor! »

Zuerst dachte ich, es läuft ein wenig OT, aber dann wurde mir klar: es ist genau der Punkt! Das, was unter Sport zu verstehen ist und was nicht - also die Begriffsbedeutung - wird zu einer Definitionsfrage, die juristisch bestimmte Interessen absichern muss. Im konkreten Fall dürfte es auf jeden Fall Sitzungsprotokolle geben, in denen das spezifiziert ist, was gemeint ist und was nicht. Aber wir müssen den Kontext verstehen: es ist eine Art Hintertür, durch die man bestimmte Aktivitäten argumentativ ausschließen kann. Die letztendliche Entscheidung liegt dann ohnehin bei der Mitgliederversammlung.
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Fritz »

tutor! hat geschrieben:Aber wir müssen den Kontext verstehen: es ist eine Art Hintertür, durch die man bestimmte Aktivitäten argumentativ ausschließen kann. Die letztendliche Entscheidung liegt dann ohnehin bei der Mitgliederversammlung.
Dann sollte da klipp und klar stehen, über die Aufnahme entscheidet die Mitgliederversammlung!

Und nicht so eine merkwürdige Definition von Sport, die Kampfsportler letztendlich
ausschließen würde, wenn sie konsequent gehandhabt wird.
Wird sie nicht konsequent gehandhabt, dann ist das ganze "Pamphlet" eh wertlos und
einer Willkür Tür und Tor geöffnet....
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von tutor! »

Fritz hat geschrieben:[Dann sollte da klipp und klar stehen, über die Aufnahme entscheidet die Mitgliederversammlung!
Steht klipp und klar in § 1 ... :)
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Hofi
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Hofi »

Fritz hat geschrieben:@tutor: Das sind ganz interessante Gesichtspunkte...

Dabei fällt sofort ins Auge:
DOSB, Aufnahmeordnung, §3 hat geschrieben:3. Die Sportart muss die Einhaltung ethischer Werte wie z.B. Fairplay, Chancengleichheit, Unverletzlichkeit der Person und Partnerschaft durch Regeln und/oder ein System von Wettkampf- und Klasseneinteilungen gewährleisten.

Dies ist nicht gegeben insbesondere bei Konkurrenzhandlungen, die ausschließlich auf materiellen Gewinn abzielen oder die eine tatsächliche oder simulierte Körperverletzung bei Einhaltung der gesetzten Regeln beinhalten.
(Hervorhebung von mir)

Damit hätten heute Fechten u. Judo keinen Anspruch mehr auf Aufnahme.
Fechten simuliert Stichverletzungen, Judo simuliert Armbrüche usw.
Hi!
Auch im Fußball kann ich jemanden regelkonform vom Ball trennen und dennoch eine Verletzung verursachen, so dass man auch hier auf eine Konkurrenz-Handlung, die eine tatsächliche Verletzung bei Einhaltung der Regeln kommen könnte.
Boxen, egal ob Amateur oder Profi erfüllt die Definition immer, zumindest soeweit es den Tatbestand angeht, denn ein kräftiger Schlag gegen Körper oder Kopf stellt zunächst einmal eine Körperverletzung dar. Diese ist, solange sie regelkonform ausgeführt wird, von der Einwilligung des Gegner gedeckt. Gleiches gilt für Würger und Hebel, auch die erfüllen zunächst mal den Tatbestand, da es aber gemäß den Regeln erlaubt ist, ist es nicht rechtswidrig.
Die Definition ist somit eigentlich wertlos, denn offensichtlich ist nicht gewollt, Kampfsportarten aus dem offiziellen System auszuschließen.
Bis dann
Hofi
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Lin Chung »

Damit hätten heute Fechten u. Judo keinen Anspruch mehr auf Aufnahme.
Fechten simuliert Stichverletzungen, Judo simuliert Armbrüche usw.
...ein Grund mehr, warum Kano Judo nicht gern als Sport gesehen hat.
Grüße
Norbert Bosse
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Fritz »

Hofi hat geschrieben:Gleiches gilt für Würger und Hebel, auch die erfüllen zunächst mal den Tatbestand, da es aber gemäß den Regeln erlaubt ist, ist es nicht rechtswidrig.
Die Definition ist somit eigentlich wertlos, denn offensichtlich ist nicht gewollt, Kampfsportarten aus dem offiziellen System auszuschließen.
Es geht bei der Definition ja auch nicht um "rechtswidrig", sondern
um die Simulation einer KV bei "Einhaltung der gesetzten Regeln"...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Hofi
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Hofi »

@ Fritz:
Genau darum geht es mir ja. Nach der Definition fallen sämtliche Kampfsportarten, letztlich auch die Halb- oder mögliche Non-Kontakt-Sachen raus, denn stets liegt entweder tatbestandlich eine Körperverletzung vor oder aber sie wird simuliert (wie in der U14, wo bei in einer Hebeltechnik kontrolliertem Arm abgebrochen wird).
Da man aber die Kampfsportarten gerade nicht sämtlich ausschließen will, kann man sich diese Definition auch einfach schenken.
Bis dann
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Fritz »

Da man aber die Kampfsportarten gerade nicht sämtlich ausschließen will, kann man sich diese Definition auch einfach schenken.
Bist Du Dir da sicher? ;-)

Ich meine, irgendwas haben "sie" sich ja wohl bei der Definition gedacht...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Hofi »

Nun ja, sie haben eine Definition geschaffen, die der Lebenswirklichkeit absolut widerspricht, und ich denke, so eine Definition kann man sich schenken. Ziel dürfte sein, dass man z.B. Pokern (finanziell) oder diese Allkampf-Geschichten draußen haben will. Nur dafür taugt diese Definition in Folge ihrer bisherigen Anwendung nicht wirklich. Denn wieso ist dann Boxen "Sport", Allkampf aber nicht. Bei beiden geht es darum, den Gegner mittels körperlicher Gewalt zu besiegen, Verletzungen werden einkalkuliert, hingenommen oder sogar, wie bei dem Boxer mit dem Kieferbruch, der weitergemacht hat, gefeiert.
Sie taugt einfach für den Zweck nicht wirklich, daher kann man sich diese Definition schenken.
Bis dann
Hofi
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Syniad »

Fritz hat geschrieben: Und wie sieht es mit dem kompletten Schießsport aus?
Ok - die schießen auf Scheiben, aber ist so eine Scheibe nicht im weitesten Sinn eine
Gegnersimulation?

Und was ist an Gotcha/Paintball nun "unsportlicher" als am Fechten?
Na, ich habe da so meine Vermutungen. Es handelt sich hierbei um eine politische bzw. ideologische Entscheidung. Paintball simuliert Kriegshandlungen, wie sie heutzutage (leider) überall auf der Welt passieren. Ein Scharfschütze „verkriecht sich“ und schießt „aus dem Hinterhalt“ auf einen anderen, der Deckung sucht.

Judo, Boxen, Taekwondo und Fechten beziehen sich auf Kampfhandlungen aus einer anderen Zeit. Der zeitliche Abstand bedingt, dass die Mythenbildung (ich berufe mich auf den Mythenbegriff nach Roland Barthes) bereits kräftig eingesetzt hat. Ich stelle die These auf, dass sich all diese Kampfsportarten (ebenso Karate, Kempo, Kendo) vor dem Hintergrund des Mythos des „fairen Kampfes Mann gegen Mann“ gesehen werden (der natürlich impliziert, dass der bessere gewinnt)!
Das Boxen ist ein gutes Beispiel: Im Englischen findet sich noch heute die Bezeichnung „the noble sports“ dafür (von J.K. Rowling in Bezug auf die Dursleys eher ironisch genutzt). Der schon ergrauende Ausspruch „That’s not quite the Queensberry rules“ (gerne übersetzt mit „Das ist nicht die feine englische Art“) hat seinen Ursprung tatsächlich in Boxregeln!

Ein Mythos bezieht für gewöhnlich einige historische Tatsachen ein und blendet andere aus. Einen wahren „fairen Kampf Mann gegen Mann“, den der bessere (der – je nach Ideologiesystem – technisch überlegene, aber vielleicht auch von den Göttern favorisierte oder moralisch bessere) gewann, dürfte es in der reinen Form, die der Mythos impliziert, nicht (oft) gegeben haben. Nicht nur Laertes kannte dreckige Tricks. Im Hinblick auf Agent Orange-Kriegsführung aber mag man ein gewisses Verständnis für den Kern des Mythos verspüren.
Um zu zeigen, wie alt die historischen Wurzeln dieses westlichen Mythos sind und so seine Vielschichtigkeit zu verdeutlichen, soll hier der abendländische Philosoph schlechthin zitiert werden:

„Der Grund dieses Streites aber […] ist der, daß bis zu einem gewissen Grade eben die Tugend [Auslassung der griechischen Bezeichnungen in Transkription wegen mangelnder Sonderzeichen – für die philosophisch Bewanderten, es handelt sich hier tatsächlich um den Begriff der arete (hier ohne Sonderzeichen)!], sobald sie sich im Besitz der erforderlichen Mittel befindet, dasjenige ist, was am meisten die Macht dazu verleiht, andere zu überwältigen, und daß immer der Sieger dem Besiegten nach irgendeiner Richtung hin an Trefflichkeit überlegen ist, so dass die Gewalt (bía) nie ohne eine gewisse Tugend zu sein scheint und der Streit nur die rechtmäßige Ausübung der Gewalt betrifft […]“.

Aristoteles; Susemihl, Franz.; Wolf, Ursula.; Kullmann, Wolfgang. (1994): Politik. Neuausg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl. (Rowohlts Enzyklopädie, 545). Erstes Buch. 6.(2a). S. 55. Z. 10-18. Hintergrund der Diskussion ist hier die Legitimation der Sklaverei.

Dass dieser faire Zweikampf begrifflich das genaue Gegenteil ist vom „Deckung suchen“ und dem (scheinbaren?) „Hinterhalt“ beim Paintball, dürfte klar sein.
Mythen werden ständig instrumentalisiert – und dieser Mythos ist eben Teil der Sportpolitik.

Konstruktive Kritik ist willkommen; das ist ja schon fast ein wissenschaftlicher Versuch hier. :D

Gruß,
Sonja
"Begriffe - Fehlschlüssel"
(E. Benyoëtz)
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Fritz
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Fritz »

Syniad hat geschrieben:Na, ich habe da so meine Vermutungen. Es handelt sich hierbei um eine politische bzw. ideologische Entscheidung. Paintball simuliert Kriegshandlungen, wie sie heutzutage (leider) überall auf der Welt passieren. Ein Scharfschütze „verkriecht sich“ und schießt „aus dem Hinterhalt“ auf einen anderen, der Deckung sucht.
a) Was ist an der Simulation von "Kriegshandlungen" schlecht?
Beim Militär werden in der Regel von den Soldaten in Friedenszeit nahezu
ausschließlich Kriegshandlungen simuliert. Wir haben eine grundgesetzlich verankerte Wehrpflicht.
Wie kann also die Simulation von Kriegshandlungen, die also einerseits grundgesetzbedingt ist, im
privaten Bereich plötzlich "pfui" sein?
Ich bitte mich hier nicht falsch zu verstehen, Kriegshandlungen selbst sind abscheulich,
eine Simulation ist aber etwas komplett anderes -
Schach ist auch eine (zugegebenermaßen sehr abstrakte) Simulation einer Kriegshandlung.

Runtergebrochen auf den echten Zweikampf bzw. die Simulation dessen, wie es letztendlich im
Kampfsportbereich erfolgt, stellt es sich so dar: Der Kampf selbst ist abscheulich, die Simulation nicht.
Und wenn die Simulation befähigt, in einem echten Kampf bessere Karten zu haben, dann hängt die Bewertung
immer noch davon ab, mit welcher Absicht man kämpft, zur Verteidigung oder als unrechtmäßiger Angriff.
Genauso ist es mit Kriegshandlungen...

b) Da beim Paintball alle wissen, wer auf dem Feld ist, ist es mit dem "Verkriechen" u. "Hinterhalt"
wieder "fair" - zumindest haben alle Chancengleichheit. Ich würde da eher den restlichen Schießsport
als Scharfschützentraining ansehen, insbesondere Biathlon: Stellung suchen, präzise schießen und
schnell weg... ;-)

c) Was ist mit Speerwerfen? So wie es in der Leichtathletik ausgeübt wird, ist es auch die Simulation
einer Kriegshandlung. Der Speer wird nicht gezielt geworfen - also scheidet die "entschuldigende"
Motivation: "Simulation der Jagd" aus - in den alten Schlachten wurden halt einfach möglichst
viele Speere möglichst weit "auf den Feind" geworfen, ein paar werden schon böse treffen...
Judo, Boxen, Taekwondo und Fechten beziehen sich auf Kampfhandlungen aus einer anderen Zeit.
Ich denke, die "Zeit" sollte bei der Bewertung von Kampfhandlungen nicht die Rolle spielen,
letztendlich war/ist es in der Realität sch*ßegal, ob man elendig an einer Stich/Hiebwunde oder an
einer Schußverletzung verreckt. Entweder man lehnt _alle_ Kampfhandlungs-Simulationen
konsequent ab oder man akzeptiert z.B. auch Paintball usw...

Wichtig ist meiner Meinung nach immer - daß

i) der sportliche Gegner nicht herabgewürdigt wird,

ii) das Verletzungsrisiko bei Einhaltung der Regeln in vertretbarem Rahmen bleibt,

iii) die entsprechende Tätigkeit an sich nicht "ungesund" ist,
(mal von den leistungssportlichen Perversionen abgesehen ;-) ), sondern den Ausübenden "körperertüchtigt".
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von tutor! »

Ein großartiger Beitrag von Syniad!

Es ist ein spannender Gedanke, warum die ein oder andere Form des Kämpfens gesellschaftlich nicht nur akzeptiert, sondern als förderungswürdig eingestuft wird, während andere Formen des Kampfes gesellschaftlich geächtet sind. Eine akzeptierte Form des Kämpfens;
  • bietet Chancengleichheit
  • ist reglementiert
  • zielt nicht auf Verletzungen ab
  • hat zusätzlich eine gewisse "gefühlte" Distanz zu realer Gewalt wie z.B. Kriegshandlungen
Syniads Ausführungen zur Mythenbildung erinnern mich an die von Reaktivatior ins Gespräch gebrachten "invented traditions" und ich denke, dass ein Soziologe mehr zu diesem Konzept sagen könnte.
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Fritz »

tutor! hat geschrieben: Nochmal nachgedacht und ergänzt: Beim Fechten und beim Judo verhindern die Regeln durch Schutzmaßnahmen (Kleidung, Aufgabezeichen), dass es zu einer Verletzung kommt. Die Verletzung wird daher nicht simuliert (im Sinne von vorgetäuscht), sondern eben verhindert. Bei verschiedenen Formen des Wrestlings sieht das jedoch anders aus. Beim Boxen müsste man wohl fairerweise auch zwischen Amateur- und Berufsboxen unterscheiden.
Die Frage ist ob man unter Körperverletzung das Resultat einer Handlung versteht
(also irgendwas ist am Ende kaputt)
oder die Handlung selbst (also irgendetwas kaputt machen).
Aber selbst wenn man die KV nur als Resultat ansieht:
Es gibt im Judo für internationale Wettkämpfe die Anweisung an die Kampfrichter:
Es wird bis zum Abklopfen oder Brechen des Armes gehebelt...

Ist eine Ohnmacht durch einen Würgegriff bereits eine Körperverletzung? - Ok,
wir sagen nein, ist ja an sich was schönes ;-)
aber Juristen wie Hofi haben dazu sicherlich eine andere Meinung, wenn so etwas
außerhalb der Matte jemandem angetan wird...

Und aufs beliebte "Paintball"-Beispiel bezogen: Hier verhindert u.a. das Zusammenspiel aus Schutzausrüstung
und die Verwendung von Farbmunition ebenfalls eine Körperverletzung (als Resultat). Wer "markiert"
wurde, geht halt einfach vom Feld runter, da ist auch nichts mit "Vortäuschen" einer Verletzung...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Reaktivator »

Noch eine kleine - geschichtliche - Ergänzung zum Wörtchen "Sport":

Jigorō Kanō verwendet in Bezug auf die Leute, die Jūdō betreiben, eigentlich nie das Wort "Sportler", für das es durchaus japanische Entsprechungen gäbe (z.B. kyōgisha, 競技者, oder senshu, 選手) – aber auch nicht den Begriff "Kampfkünstler" (bugeisha, 武芸者).

Er spricht vielmehr durchweg von "Übenden", auf Japanisch shugyōsha (修行者).
(OT: Kanō unterscheidet also nicht "Sport" <-> "Kampfkunst", sondern sieht Jūdō als ein Ganzes - genau wie wir heute... ;-) )

Zu diesem Begriff habe ich in einem neuen Faden einige nähere Angaben gemacht:
http://www.dasjudoforum.de/forum/viewto ... =44&t=3578
Ein Forenmitglied ohne Signatur ist wie ein Forenmitglied ohne Namen.
(Alte Internet-Weisheit, frei nach "Reaktivator")
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Re: Das Wörtchen "Sport" - eine geschichtliche Betrachtung

Beitrag von Syniad »

Hallo, Fritz,
bei Dir laufen zwei Kritikstränge ineinander, nämlich die am Ergebnis des Denkprozesses um die gesellschaftliche Anerkennung (konkret: Wieso ist Paintball nicht erlaubt?) und die an den Kriterien des Mythos (wieso schließen diese PB aus?). Ich habe das getrennt bearbeitet, soweit es ging.
Du fragst: Warum dürfen wir Kriegshandlungen nicht simulieren (und diese Frage berührt schon beide Argumentationsstränge)?
Kurze Zusammenfassung von meiner Aussage oben: Der von mir angeführte Mythos sagt aus, wann man von ihm (emotional) gedeckt ist, wenn man es eben doch tut. Und ich habe behauptet, dass er gegenwärtig PB nicht abdeckt. Näher zu den für mich relevanten Aussagen aus Deinem Text:
Fritz hat geschrieben: a) Was ist an der Simulation von "Kriegshandlungen" schlecht?
Beim Militär werden in der Regel von den Soldaten in Friedenszeit nahezu
ausschließlich Kriegshandlungen simuliert. Wir haben eine grundgesetzlich verankerte Wehrpflicht.
Wie kann also die Simulation von Kriegshandlungen, die also einerseits grundgesetzbedingt ist, im
privaten Bereich plötzlich "pfui" sein?
Ich bitte mich hier nicht falsch zu verstehen, Kriegshandlungen selbst sind abscheulich,
eine Simulation ist aber etwas komplett anderes -
Schach ist auch eine (zugegebenermaßen sehr abstrakte) Simulation einer Kriegshandlung.
Mit „gut“ oder „schlecht“ kommen wir nicht weiter. Es sind folglich auch keine Begriffe, die ich verwendet habe. „Gesellschaftlich anerkannt“ und „nicht gesellschaftlich anerkannt“ sind die Kategorien, die hier meiner Meinung nach von Bedeutung sind. Ja, und da haben wir tatsächlich die Situation, dass das, was jemand bei der Bundeswehr macht, was institutionalisiert stattfindet (mit entsprechenden eigenen Regeln, eigenen Sanktionen usw.) im privaten Bereich tatsächlich „pfui“, also nicht anerkannt, ist. Ich sehe da kein Problem und auch keinen Widerspruch. Dass der Polizist und der Soldat mit einem Gewehr herumlaufen, dass der Soldat im Schlamm herumkriecht und Kriegshandlungen simuliert, ich in meiner Freizeit zum Privatvergnügen das aber nicht tue – das finde ich nicht widersprüchlich.
Die speziellen Regeln und Institutionen gibt es eben genau aus dem Grund, dass uns ansonsten (zu Recht) sehr unwohl wäre (wohl unter anderem aus Angst vor Missbrauch) und wir der Meinung sind, dass Kriegshandlungen gerechtfertigt sein müssen (hier durch den höheren Zweck der möglichen Verteidigung) und diese Rechtfertigung durch Institutionen gesichert werden muss. Und für die gerechtfertigte Kriegshandlung braucht es Kriegsvorbereitung. Somit ist die „Simulation“ nicht reiner Selbstzweck, sondern VORBEREITUNG für einen gerechtfertigten Einsatz und somit selbst gerechtfertigt!
Privates Paintballspiel ist durch den höheren Zweck der Verteidigung des Vater- oder eines andren Landes nicht gedeckt. Ganz nebenbei: Ich weiß nicht, was die Statistik über den Anteil junger Männer sagt, die sich gegen den Wehr- und für den Zivildienst entscheiden, aber von einem grundsätzlichen Konsens unserer Gesellschaft, dass die Wehrpflicht der einzige richtige Weg ist, dürften wir weit entfernt sein (kein Diskussionspunkt, da die bisherige Argumentation Deine Aussagen beantwortet, nur en passant bemerkt).

Wieso dürfen wir aber nicht simulieren? Ich weise darauf hin, dass meine persönliche Meinung hier nichts zur Sache tut – ich bin ab und zu auf dem Juggerspielfeld zu finden, was wohl unter „Simulation eines Schlachtfelds“ fällt. Ein Punkt ist, wie gesagt: Weil wir nicht durch den Verteidigungszweck gerechtfertigt sind.

Das Problem steht und fällt desweiteren wohl mit dem Abstraktionsgrad (der Grund für den von tutor! angeführten „gefühlten Abstand“). Pistolen, die im Großen und Ganzen so aussehen wie die, mit denen Soldaten herumrennen, sind einfach „zu echt“, zu nah an dem, was jetzt noch überall auf dem Erdball passiert und was die Generation unserer Großeltern aus eigener leidvoller Erfahrung kannte! Es fehlt der historische Abstand. Und gerade in diesem Land sind wir generell vorsichtig bei der Simulation von Kriegshandlungen. Verwundert das irgendjemanden?

Fritz hat geschrieben: b) Da beim Paintball alle wissen, wer auf dem Feld ist, ist es mit dem "Verkriechen" u. "Hinterhalt"
wieder "fair" - zumindest haben alle Chancengleichheit.
Mein Fehler. In den von mir beschriebenen Mythos spielt mehr herein als das, was der Sportler unter „fair“ versteht. Mit „fair, geradeheraus, offen und ehrlich“ würde ich die Attribute vervollständigen - als gegensätzlich zu „jemand hat einen unbotmäßigen Vorteil / etwas findet verdeckt statt / etwas Unwahres wird vorgespiegelt“ (letzteres mit Vorsicht zu genießen, weil die Abgrenzung „Unwahres“ – „Finte“ schwierig wird und vielleicht interessant sein kann). Eines der Probleme ist eben das Lauernde, das Verstecken, der Hinterhalt (= nicht offen, geradeheraus). Wem das nicht sofort einleuchtet, der bedenke die sprachlich sofort erkennbare Beziehung von „Hinterhalt“ und „hinterhältig“!
Hinzu kommt der Einsatz von Pistolen, der Unbehagen bereitet (in Europa mehr als anderswo… aber auch in den USA gibt es genügend Leute, die die Unfallstatistiken der Handfeuerwaffen kennen und Pistolen auch nicht als „normal“ ansehen). Hier kommt noch etwas dazu: Mit einer Pistole jemanden zu verletzen, ist körperlich einfach. Ein Vierjähriger kann das körperlich bewerkstelligen (es mangelt ihm an Treffsicherheit, evtl. knallt der Rückstoß ihn durch die Gegend, aber darum geht es nicht). Das entspricht nicht unserem idealisierten Bild des starken, tapferen Kämpfers, der seinen eigenen Ressourcen vertraut! Dass es trotzdem Sportschießen auf Tontauben usw. gibt, liegt eben daran, dass auch hier kein direkter Gegner auftaucht. Es muss sich daher nicht so rechtfertigen wie Kampfsport.
Fritz hat geschrieben: c) Was ist mit Speerwerfen? So wie es in der Leichtathletik ausgeübt wird, ist es auch die Simulation
einer Kriegshandlung. Der Speer wird nicht gezielt geworfen - also scheidet die "entschuldigende"
Motivation: "Simulation der Jagd" aus - in den alten Schlachten wurden halt einfach möglichst
viele Speere möglichst weit "auf den Feind" geworfen, ein paar werden schon böse treffen...
Speerwerfen ist kein Kampfsport und keine direkte Konfrontation. Es gibt keinen Gegner, dessen Verletzung angestrebt oder simuliert wird. Damit fällt das aus der Kampfsportdiskussion aus meiner Sicht raus. Klar verstehe ich den Hintergrund – aber das Speerwerfen ist einfach zu weit abstrahiert (nicht ganz so weit wie Schach, aber weiter als Karate). Und der Hintergrund der Jagd könnte durchaus auch vorhanden sein – wer den Speer (in einer Demonstration oder einem kultischen Fest) am weitesten schleudert, ist halt derjenige, der ihn auch am kraftvollsten in den Eber stoßen konnte (und damit seine Überlebenschancen beträchtlich erhöht). Ich weiß nicht, wo das Speerwerfen seinen Ursprung hat, aber in der Vorstellung der breiten Masse muss da kein gegnerisches Heer stehen – und darum geht’s.
Fritz hat geschrieben: Zitat:
Judo, Boxen, Taekwondo und Fechten beziehen sich auf Kampfhandlungen aus einer anderen Zeit.
Ich denke, die "Zeit" sollte bei der Bewertung von Kampfhandlungen nicht die Rolle spielen,
letztendlich war/ist es in der Realität sch*ßegal, ob man elendig an einer Stich/Hiebwunde oder an
einer Schußverletzung verreckt. Entweder man lehnt _alle_ Kampfhandlungs-Simulationen
konsequent ab oder man akzeptiert z.B. auch Paintball usw...
Du willst jetzt nicht wirklich über die Rationalität vom Mythos reden, oder? Ich habe einen Mythos benannt, der meiner Meinung nach am Werk ist und der einiges erklärt – wie rational das ist, ist eine ganz andere Frage! Und ein Mythos braucht Zeit für die Entwicklung. Wie Nostalgie, die wohl ein bisschen dazugehört…
Mythen sind dahingehend rationale Werkzeuge, als sie komplexitätsreduzierend sind. Und dieser Mythos reduziert tatsächlich die Komplexität verschiedenster Faktoren damaliger Kriegshandlungen auf ein einfaches „männliches Duell, das der bessere gewinnt“ ohne Ansehen der Umstände. Dafür gibt es auch handfeste psychologische Gründe. Ich habe ein Erklärungsmodell geliefert. Ich möchte, dass ganz deutlich ist, dass es ein Unterschied ist, ob Du das Modell anzweifelst oder Dir – wie hier –das, was (auch! Von Monokausalität habe ich nichts gesagt!) sein Ergebnis ist, nicht passt! In anderen, vielleicht einfacheren Worten: Ich habe nicht dargelegt, was eine Rolle spielen „sollte“, sondern was meiner Meinung nach eine Rolle spielt!

Also, dies führst Du gegen die schon angeführte Einteilung (anerkannt / nicht anerkannt) ins Feld. Ich weise darauf hin, dass es das Erklärungsmodell Mythos nicht im geringsten tangiert:
Fritz hat geschrieben: Wichtig ist meiner Meinung nach immer - daß

i) der sportliche Gegner nicht herabgewürdigt wird,

ii) das Verletzungsrisiko bei Einhaltung der Regeln in vertretbarem Rahmen bleibt,

iii) die entsprechende Tätigkeit an sich nicht "ungesund" ist,
(mal von den leistungssportlichen Perversionen abgesehen ), sondern den Ausübenden "körperertüchtigt".

Noch mal zusammenfassend zum Mythos: Ich erweitere ihn auf „fairen, offenen, ehrlichen, geradeheraus stattfindenden“ Zweikampf (und lasse dabei die Schwierigkeiten der Abgrenzung, ab wann es „unehrlich“ wird, außer Betracht).
Der Grad der Abstraktion, also die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und der simulierten Handlung, spielt in der Debatte eine Rolle. Der Kampfsport steht unter besonderem argumentativen Zugzwang, weil in ihm nicht schon der Gegner abstrahiert ist.
Vielleicht ist fehlender Abstand eine Hemmung in der Entstehung eines Mythos – solange die Pistole noch im kommunikativen und nicht im kulturellen Gedächtnis (nach der Terminologie von M. Halbwachs) ist, ist sie vielleicht noch zu vielschichtig, um in die reduzierende Wirklichkeit des Mythos übernommen zu werden (nur ein Gedanke, da müsste ich länger nachdenken und forschen). Kurz gesagt: Wir spüren das Aufeinanderprallen von Realität / Komplexität auf unser idealisiertes Bild noch so stark, dass eines von beiden zurückweichen muss: Entweder geben wir den Mythos auf, weil uns bewusst wird, dass er nicht realistisch ist, oder wir lassen den zu realen / komplexen Gegenstand nicht herein.

Ich glaube aber, dass dies alles noch zu einfach ist, wenn wir uns mit der Frage nach dem Abstand von Mythos und Realität und Mythos und Sport befassen, weil es unterschiedliche Kategorien gibt.
Können nur simulierte Kriegshandlungen in den Sport aufgenommen werden? Lapidare Antwort: Klar. Und das bedeutet eben auch, dass die Handlungen abstrahiert sein müssen! Wie die Abstraktion dabei stattfindet, ist unterschiedlich: Durch „keine direkte Gegnerkonfrontation“ wie beim Schießen oder Speerwerfen oder über andere Wege wie beim Judo. Es scheint so zu sein, dass, wenn ein direkter Gegner noch vorhanden ist, ein Rechtfertigungsdruck eher besteht als dort, wo dies nicht der Fall ist.
Wann ist nun eine Handlung abstrahiert genug, um in den Sport zu gelangen? Kann man diskutieren, Fritz hat eine Antwort gegeben (keine Verletzungen usw., Körperertüchtigung).

Nächste Frage: Können nur simulierte Handlungen vom Mythos gedeckt werden? Hm, ich denke, nein. Eine einzelne konkrete reale Handlung stellt sich nicht immer komplex dar. Tut sie es, knallt sie gegen den Mythos.
Wir SEHEN in abstrahierten Handlungen das Bild des aufrechten Kämpfers. Wir können aber genau dieses Bild auch in der tatsächlichen konkreten Handlung sehen. Das Kino profitiert ja davon, dass auch real erscheinende Handlungen in seine Kategorien fallen („Kill Bill“ fällt mir spontan ein). Klugerweise reduziert es auch gleich die Komplexität des dargestellten Einzelereignisses, wenn es um unser emotionales Mitfiebern, basierend auf Mythenaktivierung, buhlt…
Auch eine tatsächliche Auseinandersetzung, von der wir in der Zeitung lesen, KANN den Mythos in uns „aktivieren“. Und wenn wir dabei sind? Dies ist die Frage, wieviel Abstand, wieviel Abstraktion braucht der Mythos?
Wie schon gesagt: Ein Mythos blendet einige historische Faktoren aus. Er wirkt also komplexitätsreduzierend. Dies bedeutet, dass allzu komplex erscheinende Sachverhalte noch nicht in ihn eingehen. Der Mythos bedingt im weiteren, verlangt aber dadurch auch, ein „Komplexitätsminus“ in der Wahrnehmung des Gegenstandes. Dieses Minus KANN durch den historischen Abstand und den Mangel an Anschauung bedingt sein. Es kann vermutlich auch dadurch bedingt sein, dass eine sich nicht als komplex darstellende Einzelhandlung (nicht komplex, weil sie über einen Mittler, etwa einen Regisseur oder Autor, dargelegt wird, der ein Interesse an der Komplexitätsreduzierung hat, oder weil der Beobachtende ein schlichtes Gemüt hat oder weil eine Handlung einen Teil ihrer Komplexität durch Analogien und die Zuordnung zu ähnlichen Ereignissen gewinnt, die aus mannigfachen Gründen im konkreten Fall ausblieb) betrachtet wird.
Einfacher: Je weiter etwas historisch weg ist, je weiter es sich vom kommunikativen Gedächtnis entfernt hat, desto leichter ist die Aufnahme in den Mythos. Was lange her ist, kann nur noch der Wissenschaftler –wenn überhaupt!- in seiner Komplexität begreifen. Ein Einzelphänomen, das nicht per Analogie in andere Erscheinungen eingereiht wird, kann ebenfalls nicht-komplex sein.
Also: Der zeitliche Abstand ist wohl nicht unbedingt nötig für die Aufnahme eines Eindrucks / Konzepts in den Mythos, aber er bedingt die Komplexitätsreduzierung, die nötig ist.

Und jetzt reicht es mir für heute, denn ich muss morgen früh noch ein paar spannende Literaturvorträge hören. Ich bitte um Verzeihung für die Stellen, an denen mir der kulturwissenschaftliche Werkzeugkoffer noch verschlossen ist und ich stattdessen mit anderem Handwerkszeug improvisiert habe. Ohnehin ist dieser letzte Absatz noch nicht so „rund“, wie er sein könnte. Aber vielleicht wird er das ja durch weitere Denkanstöße von Euch…

Gruß,
Sonja
"Begriffe - Fehlschlüssel"
(E. Benyoëtz)
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