Jigoro Kano, Lehrer und Krieger ?

Hier geht es um die Geschichte und um Traditionen des Judo
tutor!
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Re: Jigoro Kano, Lehrer und Krieger ?

Beitrag von tutor! »

tom herold hat geschrieben:Ich sehe hier den Versuch einer revisionistischen Festschreibung der Geschichte.
Es geht um nichts anderes als Klärung von Sachfragen. Vieles ist über die Judogeschichte - aus welchen Gründen auch immer - über die Jahre falsch wiedergegeben und anschließend und hundertfach abgeschrieben worden, wobei nicht selten noch etwas hinzugedichtet wurde. Diese Mythen sollten endlich aufgeklärt und korrigiert werden.

Zu den Kämpfen zwischen ca. 1883 und 1888 Jahren gibt es Bekanntes, aber auch offene Fragen. Niehaus schreibt über die von der Polizei veranstalteten Turniere: "Um diese Turniere ranken sich eine Vielzahl von Legenden, und eine Rekonstruktion der Ereignisse ist nur schwer möglich." (S. 77) Und auf der nächsten Seite schreibt er weiter, dass in der Sekundärliteratur noch nicht einmal Einigkeit über die Datierung herrscht. Diese Turniere erregten nach Niehaus großes öffentliches Interesse und in den Zeitungen wurde ausführlich darüber berichtet. Allerdings hat z.B. "Jon Z" (Professor für japanische Literatur und Geschichte speziell des 19. Jahrhunderts) im englischen Forum gepostet, dass er bislang noch nichts in Zeitungen über - bei Wettkämpfen - getötete Kämpfer gefunden hat, wohl aber andere Berichte über Jujutsu-Meister.
http://judoforum.com/index.php?/topic/4 ... ntry509497
http://JudoForum.com/index.php?/topic/4 ... _p__509740

Auch gibt es keine Aufzeichnungen über die Regeln, unter denen diese Wettkämpfe ausgetragen wurden. "Jon Z" zitiert hier Todo, einen führenden Judo-Historiker:
http://JudoForum.com/index.php?/topic/3 ... _p__500199

Natürlich kenne ich auch Texte wie diesen hier von M. Tripp (http://forum.psdtc.com/topic.asp?TOPIC_ID=480), der da schreibt: "I now have historical evidence that people were killed in the Tokyo Police challenge matches", aber letztlich keine weiteren Angaben dazu macht.

Hier gibt es noch eine Menge Baustellen, die aufgeklärt werden müssen - und zwar mit harten Fakten!

Aus meiner Sicht, müssen mindestens drei Fälle unterscheiden werden, wenn es um Regeln von Wettkämpfen vor 1899 geht:
- Kämpfe innerhalb des Kodokan unter Kodokan-Mitgliedern
- Kämpfe gegen "Gäste" des Kodokan
- Kämpfe bei - von wem auch immer - veranstalteten Turnieren, an denen der Kodokan beteiligt war.
In allen drei Fällen wird es schwierig, überhaupt zu gesicherten Aussagen für die Zeit vor 1899 zu kommen. Selbst der Kodokan sagt, dass es hierüber keine exakten Aufzeichnungen gibt. Und so lange derartige Dokumente nicht vorliegen, bleibt alles weitere Spekulation.

Weiter oben schrieb ich jedoch bereits vor einiger Zeit, dass es eigentlich nicht wirklich entscheidend ist, ob die Kodokan-Regeln 1899 oder schon 1885 entstanden sind. Entscheidend ist:
- dass sie von Kano stammen,
- ihr Inhalt,
- welche Gründe es gegeben hat, sie so zu formulieren, wie sie formuliert wurden,
- wie und aus welchen Gründen sie später (noch von Kano) modifiziert wurden.
Dies alles ist bestens dokumentiert.
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Fritz
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Re: Jigoro Kano, Lehrer und Krieger ?

Beitrag von Fritz »

kastow hat geschrieben:In Hoares Skript werden auch die ersten Wettkampfregeln der Butokukai aus dem Jahre 1899 erwähnt, die der Kôdôkan bis auf drei kleine, ebenfalls von Hoare aufgeführte, Änderungen übernommen hat. Interessanterweise sind bereits zu diesem Zeitpunkt, ca. 17 Jahre nach Kôdôkan-Gründung, keine Atemi im Wettkampf erlaubt. Zusammen mit dem bereits oben von mir übersetzten Zitat ist also auch eine andere Lesart der 'regellosen' Kämpfe möglich
Wo erkennst Du in den zitierten Regeln ein Verbot von Atemi?
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Jigoro Kano, Lehrer und Krieger ?

Beitrag von tutor! »

Fritz hat geschrieben:Wo erkennst Du in den zitierten Regeln ein Verbot von Atemi?
Gute Frage - ich finde ein Verbot noch nicht mal in den aktuellen IJF-Regeln.... am Ende sind Atemi erlaubt, aber keiner weiß es :dontknow

Aber Spaß beiseite: Gleich in Artikel 1 steht:

Jujitsu shiai will be decided on the basis of Nagewaza and Katamewaza

Natürlich kann man nun sagen, dass es ein Unterschied ist, ob verschiedene Techniken bei der Bewertung ignoriert werden oder ob sie verboten sind. Willst Du darauf hinaus?
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Fritz
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Re: Jigoro Kano, Lehrer und Krieger ?

Beitrag von Fritz »

Jujitsu shiai will be decided on the basis of Nagewaza and Katamewaza

Natürlich kann man nun sagen, dass es ein Unterschied ist, ob verschiedene Techniken bei der Bewertung ignoriert werden oder ob sie verboten sind. Willst Du darauf hinaus?
Genau. Haben wir ja auch jetzt. Techniken sind erlaubt, werden aber nicht bewertet bzw. als kampfentscheidend bewertet...
Gibt es ja auch bei einigen Karate-Wettkampfstilen: Die können gerne werfen, aber den Punkt gibt es erst, wenn sie hinterher
draufhauen...

Bei den IJF-Regeln bin ich mir mittlerweile nicht so sicher, was da drinnen steht und was nicht ;-) Ändert sich ja auch ständig...

Bzgl. Atemi sehe ich da in der deutschen Übersetzung (beim LV Berlin gefunden) nur folgendes:
Mit dem Knie oder Fuß gegen die Hand oder den Arm des Gegners zu
treten, damit er seinen Griff freigibt, oder gegen des Gegners Bein
oder Fußgelenk zu treten, ohne eine Technik anzuwenden.
und so einen "Gummi-Paragraphen":
Irgendeine Handlung zu begehen, die den Gegner gefährden oder
verletzen kann, insbesondere des Gegners Nacken oder
Wirbelsäule, oder die gegen den Geist des Judo ist.
Selbstredend ist "Geist des Judo" nirgendwo definiert.

Damit hast Du recht: Atemi sind sogar jetzt noch erlaubt, solange sie nicht den Gegner gefährden oder verletzen können.
Gegen den "Geist" können sie nicht verstoßen, weil Atemi ja zweifelsfrei zum Judo gehören ;-)

Das erklärt das eine Video von Koji Komuro im englischen Judoforum, wo er "ungestraft" einen Tritt zum Bein des Gegners ausführt, um dessen Bewegung zu stoppen und ihn in ein Position zu bringen, wo er einen Ude-Gatame ansetzen kann (was aber nicht gelingt)
http://judoforum.com/index.php?/topic/4 ... _p__517721
(1:21 beim Video)

Oder die Praxis ambitionierter Leistungssportler, bei Würfen wie O-Soto-Gari, Ko-Uchi-Gari u.ä. mit dem Kragen in der Hand
in Richtung Kinn zu boxen...

Interessante Erkenntnis...
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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Re: Jigoro Kano, Lehrer und Krieger ?

Beitrag von tutor! »

Fritz hat geschrieben:Interessante Erkenntnis...
... dass Kano die Atemi doch nicht aus dem Randori genommen haben soll? Das ist jetzt nicht Dein ernst....
(abgesehen natürlich von der Bemerkung 1889, dass man sich für das Randori, in dem geschlagen wird, Handschuhe anzieht).

Aber ansonsten schlussfolgerst Du schon richtig:
Fritz hat geschrieben:Atemi sind sogar jetzt noch erlaubt, solange sie nicht den Gegner gefährden oder verletzen können.
Hat aber was von "wasch mich, aber mach mich nicht nass".... obwohl es auch Atemi gibt, die nicht dazu gedacht sind, den Gegner zu verletzen.
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Fritz
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Re: Jigoro Kano, Lehrer und Krieger ?

Beitrag von Fritz »

tutor! hat geschrieben:
Fritz hat geschrieben:Interessante Erkenntnis...
... dass Kano die Atemi doch nicht aus dem Randori genommen haben soll? Das ist jetzt nicht Dein ernst....
(abgesehen natürlich von der Bemerkung 1889, dass man sich für das Randori, in dem geschlagen wird, Handschuhe anzieht).
Moment: Wir redeten gerade über IJF-Regeln - nicht über Kano ;-)
Den Kano-Zitaten entnehme ich, daß er schon die Absicht hatte, Atemi ins Randori zu integrieren,
allerdings noch nach einem praktikablen Weg gesucht hatte...
Meiner _Meinung_ nach bedingte das Hineindrücken einer Kampfkunst in den "Schulsport" durchaus einige pragmatische Kompromisse...
Aber ansonsten schlussfolgerst Du schon richtig:
Fritz hat geschrieben:Atemi sind sogar jetzt noch erlaubt, solange sie nicht den Gegner gefährden oder verletzen können.
Hat aber was von "wasch mich, aber mach mich nicht nass".... obwohl es auch Atemi gibt, die nicht dazu gedacht sind, den Gegner zu verletzen.
Wir müssen dabei das Verletzungs-Risiko natürlich im Vergleich mit anderen Techniken sehen.
Also mit den Würfen (Katame-Waza sind da weitgehend außen vor, da hier der Uke in der Regel
rechtzeitig abschlagen kann, wenn ich mal vom im Stand angesetztem Juji-Gatame absehe,
wo doch gelegentlich mal ein Arm arg überdehnt wird).
Vor diesem Hintergrund kann eigentlich "nicht verletzen oder gefährden" nur heißen, daß nichts dauerhaft kaputt gemacht wird. Schmerzwirkung und Ohnmacht bewegen sich meiner Meinung nach also durchaus im judoüblichen Rahmen...
tom herold hat geschrieben:
obwohl es auch Atemi gibt, die nicht dazu gedacht sind, den Gegner zu verletzen.
Bitte belegte Beispiele.
Ein Beispiel ist das Video im von mir angeführten Beitrag. Sicherlich kann man diesen Tritt auch so machen,
daß der andere hinterher sein Knie vergessen kann - aber so wie Koji getreten hat, war diese Technik
nicht gedacht, den Gegner zu verletzen.
Ein weitere Beispiele haben Frank Thiele u. Du selbst auf Euren Lehrgängen gebracht: Ich erinnere an diese
dem Ko-Uchi-Gari ähnliche Bewegung mit dem Ziel, Ukes Bein "weg zu bekommen" - Das ist ein letztendlich
ein Tritt - da keine Wurfabsicht dahinter steht, aber das Ziel ist hier eben nicht zu verletzen, sondern
die Reaktion des Uke... Oder wenn ich nicht ganz falsch liege:
Dein Ippon-Seoi-Nage-Ansatz (mit der "Arm-Sperre" beim Eindrehen) - ich bin da beim Üben sehr schnell draufgekommen, daß es sich "gut macht", das Ding als leichten Ellbogen-Schlag auszuführen, bevor es
ans "Armkreisen" geht - ernsthaft verletzen tu ich damit aber niemanden mit... ;-)
Oder diese kleine Schocktechnik zum "Aufrichten beim Pinguin"...
Oder Dein "Haito-Uchi" fürs Kuzushi beim Harai-Goshi...

Es kommt halt auch auf die Absicht an und hier greift dann der "Gummi-Paragraph" (im sportlichen Wettstreit)
Für _mich_ fällt die Erkenntnis wie Schuppen von den Augen, daß selbst im IJF-Sport-Judo
Atemi erlaubt sind, innerhalb der aufgezeigten Grenzen.

Tom, Du sagst selbst, daß Würfe im Randori (u. damit auch im Wettkampf) so gemacht werden, daß der
Gegner wieder aufstehen kann, es aber halt auch Ausführungen gibt, wo er das nicht mehr kann..
Genauso ist es doch auch bei den Atemi...

Nun ja - was die Karis u. damit auch die Wettkämpfer dann draus machen, ist eine andere Seite. ;-)
Mit freundlichem Gruß

Fritz
tom herold
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Re: Jigoro Kano, Lehrer und Krieger ?

Beitrag von tom herold »

Ein weitere Beispiele haben Frank Thiele u. Du selbst auf Euren Lehrgängen gebracht: Ich erinnere an diese dem Ko-Uchi-Gari ähnliche Bewegung mit dem Ziel, Ukes Bein "weg zu bekommen" - Das ist ein letztendlich ein Tritt - da keine Wurfabsicht dahinter steht, aber das Ziel ist hier eben nicht zu verletzen, sondern die Reaktion des Uke...
Falsch.
Uke nimmt das Bein weg, damit er den Tritt nicht voll abbekommt, und beim Demonstrieren habe ich auch nicht voll zugetreten.
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Fritz
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Re: Jigoro Kano, Lehrer und Krieger ?

Beitrag von Fritz »

tom herold hat geschrieben:
Ein weitere Beispiele haben Frank Thiele u. Du selbst auf Euren Lehrgängen gebracht: Ich erinnere an diese dem Ko-Uchi-Gari ähnliche Bewegung mit dem Ziel, Ukes Bein "weg zu bekommen" - Das ist ein letztendlich ein Tritt - da keine Wurfabsicht dahinter steht, aber das Ziel ist hier eben nicht zu verletzen, sondern die Reaktion des Uke...
Falsch.
Uke nimmt das Bein weg, damit er den Tritt nicht voll abbekommt, und beim Demonstrieren habe ich auch nicht voll zugetreten.
Klar haste nicht voll zugetreten, und klar nimmt Uke das Bein weg, weil er
a) denkt da kommt ein "böser" Ko-Uchi-Gari
b) es recht ungenehm ist
c) das Bein auch mechanisch bewegt wird.

Und das müßte sogar nach IJF-Regel so erlaubt sein.
Klar kannst Du sicherlich da so reinschwarten, daß am Fuß was kaputt geht, wenn Uke sein Bein nicht rechtzeitig
weg nimmt. Das wäre nach IJF-Regeln dann schon mal nicht erlaubt.
Du kannst ja sicherlich auch mühelos beim Seoi-Nage jemanden so auf den Kopf werfen, daß er nicht mehr lebt.
Das wäre dann nach IJF-Regeln auch nicht erlaubt.

Mein Aussage ist schlicht und einfach: Die Wettkampf-Regeln (nicht die Karis)
lassen offensichtlich auch noch heute Atemis zu.
Nur eben so, daß halt nichts ernsthaft kaputt gemacht werden darf. Und man kann keine Wertung damit
erzielen. Also wenn ich es schaffe, geschickterweise mittels Atemi jemanden auszuknocken bzw. umzuhauen, ohne
daß der einen Schaden (Benommenheit, Ohnmacht zählt nicht, denn das kommt auch
bei Würfen u. Würgen vor) davon trägt, muß ich halt eben noch hinterher,
um ihn zu 25 Sek. zu halten, zwecks Wertung ;-)

Ob Atemi - die nichts kaputt machen möchten ;-) - für "die Straße" eine Zweck haben oder nicht, steht auf einem
ganz anderen Blatt. (Entschärfte Wurfausführungen "auf der Straße" sind auch eher kontraproduktiv...)

Aber die Wettkampfregeln können offenbar nicht als Vorwand genommen werden, um Atemi nicht zu üben ;-)

@Tom und tutor!: Bitte tief durchatmen und verfallt bitte nicht in diese
persönliche Kompetenz-Gerangel-Schiene u. Wortklauberei. Ihr redet wieder trefflich aneinander vorbei.
Dazu ist das Thema zu schade...


Bezug nach Herauslösen aus dem Faden verloren gegangen. Die fraglichen Beiträge stehen nunmehr hier:
http://www.dasjudoforum.de/forum/viewto ... =21&t=5001
tutor!
Mit freundlichem Gruß

Fritz
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